Menschen:schreiben
Zu jedem Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ein literarischer Auftragstext in einer der vier Schweizer Landessprachen (nötigenfalls zusätzlich ins Deutsche übersetzt, da der Band doch bei einem deutschsprachigen Züricher Verlag erscheint); außerdem fünf Beiträge zur aktuellen Lage der Menschenrechte in der Schweiz, die direkt von Amnesty International stammen … Rezensiert muss so etwas eigentlich nicht werden. Es handelt sich nicht um einen Eintrag in den Literaturdiskurs, sondern um eine buchförmige Intervention in ein (innen)politisches Kräftespiel – das Vorwort sagt uns dazu unter anderem
… leider ist die Schweiz auch ein Land, das immer wieder Volksinitiativen hervorbringt, die Angriffe auf das Völkerrecht bedeuten (z. B. aktuell die "Selbstbestimmungsinitiative " der SVP, deren Annahme zur Relativierung der Europäischen Menschenrechtskonvention führen würde. Bis hin zur möglichen Kündigung.)
Also ein Buch, das Autor*innen zu Hilfe ruft, um mehrfach die gefällige Beantwortung der tagespolitisch relevanten Frage zu leisten: "Ganz schnell – wofür brauchen wir die einzelnen Menschenrechte?"
Diese Intervention geht natürlich nur auf, insofern die Textsammlung auch tatsächlich als Lesebüchlein funktioniert, welches den neugierigen, aber ahnungslosen Leser mit künstlerisch-literarischen Mitteln in die Rechtsmaterie einführt und hilft, ihren Urtext als Kanon zu verbreiten (in etwa nach Art jener immer wieder vorkommenden künstlerisch aufgewerteten Taschenausgaben der US -amerikanischen Constitution oder des Marx'schen Manifests). Freilich könnte man in diesem Zusammenhang die relative Häufung von erstens blank narrativen Texten (auch gelegentlich in Gedichtform) und zweitens recht trockenen Kurzessays konstatieren … oder beobachten, dass es in der Natur gerade des vorliegenden Schreibauftrags liegt, inhaltlich Variationen zum Thema "Empathie" hervorzubringen, Inszenierungen (in keinem ehrenrührigen Sinn des Wortes) von Leidensethik. Will sagen: Es sind die Formen und literarischen Gehalte klar konservativer als die Menschenrechtsartikel selbst, auf die sie je sich beziehen (und mithin konservativer als die gesellschaftliche Stoßrichtung des Gesamtgebildes, in das sie eingebettet sind).
Damit wiederholt sich auf ästhetischer Ebene die Ambivalenz, die den Menschenrechten auch politisch-philosophisch anhaftet: Sind sie ein naiver Wunschzettel ans ca. Christkind, nicht derselben Ordnung angehörig wie das (verwaltungstechnische, polizeiliche, gerichtliche, diplomatische) Tagesgeschäft auch der "zivilisiertesten" Nation – oder sind sie gerade in der Schlichtheit ihrer Setzungen ein tatsächlich erfolgversprechendes Tool, um ein radikal fortschrittliches Programm just über den Weg der internationalen Gerichtsbarkeit voranzutreiben … ?
Wie der Verweis auf Menschenrechte (oder auch auf irgendwelche einzelnen Artikel der Allgemeinen Erklärung) in einer politischen Diskussion, je nach Sprecher*in, Situation und Kontext Verschiedenstes sein kann – gegen einen konkurrierenden Staat gerichtete Rhetorik, oder fachliche Abhandlung verbindlicher Rechtsnormen; Minderheitenschutz, oder selbst noch Angriff gegen Minderheiten1; wirksame Inschutznahme oder ebensolche Drohung –, so machen auch die Textbeiträge sehr unterschiedliche Sichtweisen auf "ihren" jeweiligen Artikel der Menschenrechte auf. Es erweist sich dabei die "reine Empathie" (siehe oben, der Natur der Sache gemäß) als die unkomplizierteste Option. Das ist gut so, denn dort, wo es kompliziert wird, ist die notwendige relative Kürze der Beiträge nicht unbedingt förderlich. Wir sehen das z. B. an Isabelle Caprons Text zu Artikel 27 (Teilhabe am kulturellen Leben), der die Foucault'sche Kritik an neuer Technologie als Herrschaftswerkzeug auf die technische Verfügbarmachung von ubiquitärem Breitbandinternet anwendet – und zwar in der hier vorliegenden, gewiss um einen entscheidenden Absatz gekürzten Fassung so, dass man für "Internet" genauso gut "Buchdruck" oder "Plattenspieler" substituieren könnte. Immerhin hat ihr Text zur Folge, dass ich jetzt weiß, was Artikel 27 der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte ist, und welche Relevanz er, auf eine Spitze getrieben, potentiell einmal gewinnen könnte. Mehr ist von dieser Anthologie, und ihren einzelnen Einträgen, nicht mit Recht zu verlangen.
Das Buch bietet sich als Weihnachtsgeschenk an Freunde und Verwandte an, die im vergangenen Jahr die Tendenz haben erkennen lassen, etwelchen aufklärungsskeptischen, populistisch/chauvinistischen "Bewegungen" ins Netz zu gehen.
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Autor*innen: Amina Abdulkadir, Laura Accerboni, Sacha Batthyany, Vanni Bianconi, Isabelle Capron, Odile Cornuz, Daniel De Roulet, Urs Faes, Heike Fiedler, Catalin Dorian Florescu, Lea Gottheil, Petra Ivanov, Göri Klainguti, Max Lobe, Daniel Mezger, Francesco Micieli, Gianna Molinari, Alberto Nessi, Fabio Pusterla, Noëlle Revaz, Werner Rohner, Ruth Schweikert, Monique Schwitter, Eva Seck, Sylvain Thévoz, Leo Tuor, Henriette Vásárhelyi, Benjamin von Wyl, Julia Weber, Yusuf Yeşilöz
Übersetzer*innen: Ruth Gantert, Elsbeth Gut Bozetti, Camille Luscher, Barbara Sauser, Claudio Spescha, Fanny Vazquéz, Gabriela Zehnder
- 1. so, wenn in der lächerlich durchsichtigen "Beschneidungsdiskussion", die in Österreich alle paar Jahre wieder jemand vom Zaun bricht, eine enge Interpretation von Artikel 3 gegen Artikel 18 gestellt wird
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