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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

"Der Trinkwasser-Erlebnispfad"

Hamburg

Es gibt vom Kollegen Hartmann hierorts bereits eine Rezension zu diesem Buch, aber die Chefin sagt, "Kolonien und Manschettenknöpfe" verdiene die doppelte Aufmerksamkeit. In diesem Sinne: Hier meine sprichwörtlichen zwei Cent zu "Kolonien und Manschettenknöpfe" von Thomas Kunst.

Die Texte in den sieben Kapiteln des Bandes sind stets entweder strenge Sonette oder ausufernde Langzeilengedichte (Hartmann schreibt "epenartig"); als zusätzliches zunächst augenscheinliches Bauprinzip dient die Verknüpfung unmittelbar aufeinander folgenden Texte durch Wiederholung und gelegentliche Variation einzelner Wendungen, die wir am Ende des einen Gedichts und dann am Anfang des nächsten wiederfinden – wobei dieses Prinzip mit Voranschreiten des Bandes zusehends offener, uneindeutiger wird; erst verschiebt sich die Phrase, die für den nächsten Text das Stichwort gibt, immer weiter nach vorn ins erste Gedicht, bis sie irgendwann ganz ausbleibt, uns aber beim nächsten Anfang trotzdem wieder etwas bekannt vorkommt. Wenn wir dann auf der Suche nach dem einzelnen repetierten Moment zurückblättern, stellen wir irgendwann fest, dass wir da keine Kettengedichte vorliegen haben, sondern dass wir den ganzen Band als Ding aus einem einzigen Guss lesen müssen, mit einem umfangreichen, aber finiten Set an Motiven, Ideen und stilistischen Volten, die sich stetig weiter verwandeln, und mit der kettengedichtartigen Struktur der ersten paar Texte bloß als gekonnte-gezielte Heranführung des Lesers an diesen Umstand.

Über die Beherrschung der Form gibt es nichts zu sagen, Kunst kann schreiben; vielleicht, dass ihm die Verdichtung durch Komposita ein wenig gar zu viel Spaß macht; insbesondere die Sonette wirken so aufreizend mühelos, dass paradoxerweise gerade ihr lockeres Dahingleiten in den engen Grenzen der Form uns von den jeweiligen Inhalten abzulenken droht; allzu zahlreich sind hier die shiny objects für den lesenden ADHS-Kandidaten.

Inhaltlich … nun. Wir können sagen, diese Texte mäandern zwischen ihren mit unterschiedlichen Subtexten aufgeladenen Reiseszenen, Orten, Topoi; können als wiederkehrende Kippfigur den Moment identifizieren, bei dem auf das scheinbare Ausbreiten eines Szenarios oder einer ganz bestimmten Ortsschilderung die Fixierung des Gesagten auf die Folie eines ganz anderen Ortes oder Szenarios folgt (wir dachten beispielsweise, wir lesen vom brandenburgischen Hinterland, dabei geht es um Milwaukee, und/oder umgekehrt). Die Absicht scheint zu sein, eine Totalität der Welt zu fassen zu bekommen, die zugleich einerseits – qua Autorenbiographie – dorfartig-wohlvertraut bewohnt ist, die aber andererseits in jedem einzelnen Detail exotisch wirkt … und zwar exotisch nach der speziellen Art von Touristenattraktionen. Dieses letztere hat dann auch mit "Käuflichkeit" zu tun und weckt automatisch den Verdacht, man habe es bloß mit Simulakren zu tun; nicht umsonst weisen uns Titelbild und Klappentext auf das Prinzip Luna-Park, Schaustellerei, auf Aus-der-Zeit-Gefallensein; nicht umsonst auch heißt der Band wie er heißt: "Kolonien und Manschettenknöpfe", das beschwört erstens das Beieinander der ganz große Landkartendraufsicht und der ganz kleinen Details, gerade so, dass wir gerade die Leute, die Größendimension dazwischen, nicht richtig zu sehen bekommen; das erinnert zweitens an Kinderspielgeld – Knöpfe – und an die Bedingungen von ubiquitärer Abpressungswirtschaft, sodass wir an die sprichwörtlichen Glasperlen denken, mit denen irgendwelchen "Wilden" irgendwo auf den "weißen" Flecken einer Landkarte irgendetwas abgenommen wurde.

Wenn wir die Gedichte hierin ernst nehmen sollen, dann sind sie angreifbar, sobald sie ans sozial Eingemachte gehen, etwa, wenn die von Obdachlosen bewohnten Pappkartons auf dem Rinnstein nebsamt dem Luxushotel daneben als eine solche (Jahrmarksbuden-) Attraktion (…auf dem Lunapark der Bildungsbiographie) dargereicht werden ( … und es ist angesichts Kunsts geschliffener und polierter Sprache schwer, auch nur irgendetwas in seinem Gedichtband nicht als eigens zurechtgemachtes und dargereichtes Tableau zu rezipieren …). Wenn dagegen dieses Attraktionwerden schlechterdings der ganzen weiten Welt ihrerseits von uns als eigentliches Thema verstanden werden soll … hmmm … dann funktioniert das schon. Gegen eine solche Lesart spräche einzig die gewählte und gezielt platzierte Unschärfe stets der entscheidenden Details (die freilich im Dienste der oben genannten Kippfigur unausweichlich ist); für sie jedoch die Verflechtung der disparaten Reiseeindrücke mit der intellektuellen Biographie ihres Verfassers (übrigens samt praktisch erläuterndem Glossar am Ende), und zwar mit dieser speziellen Biographie, in der (a) Rezeption und Aneignung der frühen amerikanische Postmoderne ins deutschsprachige Schreiben, (b) das Umgehen mit der weltgeschichtliche Demontage der Hoffnung, es könnte einen Ort außerhalb des galoppierenden Kapitalismus geben sowie (c) das sprachliche, das stilistische und das ganz reale Schweben über Dingen (sagen wir: Sonett wie Heißluftballon) ihre Rollen spielen.

Mit dem vergleichsweise schlichteren Anspruch ans Reisegedicht jedenfalls, es möge uns bestimmte (bitteschön interessante und am besten noch unbekannte) Orte durch den Blick eines bestimmten (bitteschön sonoren) Sprechers vorführen, weil die Welt nämlich gar so groß und das Leben gar so kurz ist – mit diesem vor-postmodernen, arbeitsteilig gedachten Anspruch kommen wir dem Band nicht bei, den Thomas Kunst vorlegt. Was uns hier vorgeführt wird, ist stattdessen ein einziger Ort – bloß ist der halt weltumspannend.

Thomas Kunst
Kolonien und Manschettenknöpfe
Suhrkamp
2017 · 125 Seiten · 25,00 Euro
ISBN:
978-3-518-42754-5

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