Seit wann klopfen Chancen an die Tür?
Mit zwei Texten, die wie zu lesen aus der WIESE stammen, Moabiter Textwerkstatt unter der Leitung von Christian Filips, beginnt die 22. Ausgabe der Mütze. Zuerst das märchenhaft elegische Sie von Rahaf Gharzaddien.
Es gab einmal eine Zeit, da hatten sich alle Jahreszeiten ineinander verirrt und waren voneinander nicht mehr zu unterscheiden. Die Stadt war in den Wald gelaufen, um dort ihren Duft auszubreiten. Der Regen war zwischen Nord und Süd haltlos herumgeirrt. Ohne Frucht waren nun die Muttermünder und ausgetrocknet die Flüsse.
Gharzaddien, wie auch Kenan Khadaj sind bereits von den vorhergehenden Ausgaben bekannt. Letzter erscheint mit dem längeren Text Ich bin nicht euer Hampelmann, eine tragikomische Wohnungsfantasia, die sich existenziell-präzise, inkl. Cioran-Zitat, und den Mitbewohnern Angst, Hunger, Traurigkeit und Zucker daran macht, gegen die Rasselbande mit der Klingelsabotage vorzugehen. "Wer sabotiert, der spuckt dem Universum ins Gesicht. Ich trat also gegen die Türpfosten, biss in die Balken hinein..." Innensichten und -worte:
Ich gab keine Antwort. Aber Angst wiederholte seine Frage wieder und wieder, mit ekelhaftem Gekrächze. Ihre Worte wirkten auf mich hypnotisch. Ich schlief langsam ein wie ein Kind.
Ein eindrucksvoller Einstieg in die Ausgabe, die nach der Prosa neue Übersetzungen bringt, von Richard O. Moore, dem spätberufenen Doku-Regisseur der Bay-Area, dessen erster Gedichtband im Alter von 94 erschien. Kurz vor seinem Tod.
Harry Martinson, übersetzt von Peter Zimmermann, folgt mit späten sehr bemühten Gedichten, die dennoch wie standhaft im Regen ausharren. Natur als Raum, als freundliches Gebilde, das nicht endet. Schwermut und drei Elemente: Schweden.
Einmal kam ich ins Paradies. Es war leer. Ein verlassenes
Dorf in einem abgelegenen Laubwald.
Selbst das Schulgebäude war zu mieten. Aber niemand kam.
Und der Dorfweg wurde immer schmaler, weil das Gras von den
Rändern nach innen wanderte. Dennoch lag über diesem Dorf eine
Ahnung von Menschen. So etwas bleibt. Die Schulkinder hatten Pause.
Sie lärmten und spielten. Nur dass man sie nicht sah. Ebenso wie
die Lehrerin waren sie unsichtbar. Und nun kam mir die Lehrerein
entgegen. Ich sah es an dem Gras, das sich von ihren unsichtbaren
Schritten bewegte. Sie blieb vor mir stehen, und ich sah in ihre Augen.
Sie waren der Himmel über dem Wald. Als sie mich mit einigen
Worten begrüßte, hörte ich, dass ihre Stimme der Wind war, gemischt
mit Vogelsang. Noch ein Schritt und ich selbst wäre so unsichtbar
geworden wie sie. Als ich endlich davon ging, hörte ich sie rufen.
Dreimal rief sie im Paradies.
Martinson, der den Nobelpreis bekam und sich davon nicht erholte, – ich kann nicht glauben, was er mit der Schere machte –, geht in den Gedichten einen einsamen Weg, von Tranströmer entfernt wie eine Kunstepoche. Ein Hefthöhepunkt.
In den Stanzionen von Wernfried Hübschmann geht es etwas hülsig zu, wohingegen die abschließende Sammlung Bertram Reineckes das Gebrauchte auf die Spitze treibt, mit "streng montierten" Versen aus der Literaturzeitschrift Risse 18-39. Eine überraschende, in viele Ebenen greifende Technik, bei der Textteile wie kuratiert in einer Galerie zu einem bestimmten Thema zu stehen kommen, sich dabei als Kontinuum erweisen. Es ergeben sich Wiederholungen, wie hypnotische Samples, "täuschend einsame geräusche", "kondensstreifen, die zurückbleiben" und dazu ein umfangreiches Register. Der spannende Heftschlusspunkt.
Und das All so fern. Wir
Treten die Funken aus –
War wunderbar und warm:
Der Kunde ist König
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