Würdevoll gleitet der Bus
Mütze 21 widmet sich, im ersten Heftteil, in dossierhafter Konzentration final dem zeitgleich Im Versteck erschienenen Roman Eine Australienreise von Svein Jarvoll. Diese obskure Gemme wird in einem weiteren, wichtigen Textausschnitt geehrt, u.a. die Tarot-Szene, in der staunenswerten Übersetzung von Matthias Friedrich, anschließend mit zwei Beiträgen Sekundärliteratur, ebenfalls von Friedrich übersetzt von Gisle Selnes und Mazdak Shafieian, zu ihrem Ende geführt. Das ist gut, ist Jarvolls unverhältnismäßig uneinsichtiges Werk in den bisher präsentierten Ausschnitten kaum zu erahnen, nur richtungsweise zu verdrücken und dann auch durchaus, ohne größere Werkidee, ziemlich enervierend. Doch hier kommt alles in Bahnen und nebenbei, nach Gesamtlektüre des fantastischen Streichs im Versteck, wird es zurecht gewürdigt in all seiner Gefeiltheit, seinem Wahnwitz und seiner thanatophilen Anschmiegung. Wobei auch die beiden Literaturwissenschaftler auf die selbst in Norwegen weitegehende Ignoranz bis Verstecktheit des 1988 erstveröffentlichten Werkes hinweisen. Spricht Selnes von Jarvoll, in dessen eigener Zuschreibung, von einem Lochmacher, hält sich sein Text tatsächlich an die Dante Referenzen Jarvolls, und zwar im speziellen die analen.
Die Welt ist voller Löcher, täglich haben wir mit ihnen Verkehr, und in unserer schmutzigen Fantasie fallen sie als Ableger des gleichen andrgynen Ur-Lochs auf: l'origine du monde, l'anus solaire; geliebtes Kind hat viele Namen.
Schreibt Selnes und zieht die motivatorische Parallele der Australienreise zur Göttlichen Komödie als horizontale Kosmologienbereisung, statt der bekannt Vertikalen eda. Allerdings wirkt Mazdak Shafieians Beitrag doch etwas offener, denn selbst wenn Jarvoll gern im vordergründigen Flat einer Joyceschen Sprachausübung weilt, so ist es doch vielmehr ein in seiner Tiefe wesentlich abstrakteres kompositorisches Verfahren, das Jarvoll durchgehend anwendet, strukturell gesprochen. Es geht um Neigung zum Tode, eine Art metamorphotische Zustandsänderung in die spekulative Ebene hinein, die an einer Million sprachartistischer Beispiele mit Liebe zur Sprachgeschichte, speziell Antike und Barock von Jarvoll exemplifiziert wird, und die er selbst als thixotrop bezeichnet. Das soll in seinen eigenen Worten heißen,
Thixotropie ist die Eigenschaft einer Flüssigkeit, dass sie sich bei einer Mischung verdünnt und wieder zäher wird, wenn das Mischen endet.
Dagmara Kraus und Urs Allemann grüßen sich mit einer Doppelseite, "Kuppa huokepott NECH" aus dreimal tuten, und Allemann mit einer ganz, ganz shorten Carruthers-Story, bevor die Mütze-Konzentration sich wiederum H.D.s Faszination für das Medium Film zuwendet. Hier, statt im poetischen Essay, mit Lichtwerfer im dichterischen Raum. Den Günter Plessow in eigenartig göttlicher Schreibweise etwas vorinterpretiert: "Light takes new attribute / LICHT nimmt Gestalt an", "He left the place they built him / ER ließ den Platz, den sie ihm eingeräumt".
Ein aus dem Ungarischen übersetztes Poem von István Kemény, Hypnotherapie, vom bewährt guten Duo Orsolya Kalász und Monika Rinck, füllt die nächsten Seiten. Es nennt die Traurigkeit beim Namen, "motorisierte Seufzer", das Laub, die Bank und "Sie sind jetzt traurig./ Traurig, sehr traurig./ Sie geben sich der Traurigkeit hin." Es atmet ruhig und versucht "Kraft aus der Traurigkeit zu schöpfen", bereitet gewissermaßen den Boden für den phänomenal nüchtern-wirkungsvollen Beitrag Gisela Trahms Teil III, Kapitel 2, der sinnierend sich selbst als nichtgeschriebenes Leben zum Thema hat.
Abschließend würde sich dann Teil III dem Sinken, Loslassen und Sterben widmen, einem endlich fesselnden und erzählenswerten Geschehen, dessen Schlusspunkt zwar für alle gleich, dessen Verlauf aber unterschiedlich ist, sehr unterschiedlich sogar, eben das Besondere, Individuelle und Einzigartige, in dem der Verschwindende sich manifestiert. Flüchtige Bilder, letzte Seufzer, letzter Jux – was für ein Projekt!
In der Tat. Die Mütze 21 endet mit einem spröden Beitrag von Rahaf Gharzaddien, Mein Aschgrau, voll schwieriger Erinnerungen, dem Aufwachen durch "die Hand, die plötzlich gegen die Mauer der Zellenwand schlägt."
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