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Kritik

Verschwunden sein

Hamburg

Wenn vom "Nichts" die Rede ist, denkt man allgemein an eine abstrakte Größe, einen Abgrund oder Schlund vielleicht, vielleicht liegt tief in einem auch der unfassbare Gedanke begraben, man werde einmal nicht mehr sein, aber eher selten ist die Furcht, selbst zu jenem Nichts zu werden. Den Figuren von Wsewolod Petrow (1912-1978), widerfährt aber eben das, denn sie verschwinden nicht nur, sondern sind erst verschwunden wirklich da, als das Nichts, das sie vorstellen. Petrow selbst war in den 1930ern mit den sogenannt "absurdistischen" Oberiuten um Daniil Charms und Alexander Wwedenski bekannt, aber in der Öffentlichkeit hauptsächlich als Kunsthistoriker unterwegs, sodass seine nun bei der Friedenauer Presse in der Übersetzung von Daniel Jurjew erschienenen Prosatexte beinahe ein schriftstellerisches Debüt bedeuten (wenn man von der 2012 auf den Markt gebrachten Novelle «Die Manon Lescaut von Turdej» absieht).

In diesem schmalen Band der «Wunder» finden wir eine Reihe von kurz gehaltenen "Philosophischen Erzählungen", die längere "Winternacht" und schließlich Petrows "Erinnerungen an Charms". Tatsächlich ist Charms als Steigbügel auf dieses von den Rezensenten noch kaum zugerittene Oeuvre hilfreich. Denn Petrow stellt die Vorliebe für "natürliche Denker" und den "Alogismus der Denkweise" (s. 94) nicht nur an Charms fest, sondern integriert die im oberiutischen Manifest gefeierte "Kollision der Gegenstände" auch in seine eigene Literatur. Wie bei Charms fußen die Erzählungen Petrows auf nur leicht aus dem vernünftigen Rahmen gerückten Prämissen, aus denen dann die literarischen Schlüsse weniger gezogen werden, als dass sie pflaumenreif zu Boden fallen, um uns aufgeplatzt die Apotheose des Verschwindens schmackhaft zu machen. Zum Beispiel beginnt die Geschichte vom "Stern" so: Trygin saß im Gurkenbeet und schaute in den offenen Himmel (s. 40). Sie endet: "Irgendwas stimmt hier nicht", murmelte Nikanor, warf angewidert die Kappe weg und ging zu seiner Laubhütte (s. 43). Dazwischen verspinnt sich alles.

Allerdings wäre es unglücklich, Petrow poetisch gleich auf Charms zu reduzieren. Während Charms die Menschen und ihre Umstände mit seinen abrupten erzählerischen Schwüngen geradezu zerstückelt, kocht sie Petrow eher gemächlich aus. Die erste philosophische Erzählung, "Das Nichts", handelt von einem gewissen F. Okroschkow, dessen Eigenart es ist, bei Gelegenheit zu verschwinden. Die Gelegenheiten beginnen sich zu häufen, nach und nach verschwindet er öfter, verschwinden auch größere Teile Okroschkows, bis nur noch sein angebundenes Bein übrigbleibt. Petrow lässt sich Zeit bei der Vernichtung seines Helden und schildert sie sachte. Ein Ergebnis dieser unaufgeregten Technik ist ein Gefühl der Aufgeräumtheit, das sich am Ende jeder Erzählung einstellt. Anders als bei Charms, wo der Schrecken, gerne auch das schreckliche Gelächter hängen bleibt, kehrt nach Ablauf einer Petrowschen Schilderung Ruhe ein. Wenn zuletzt auch Okroschkows angebundenes Bein aus dem Zimmer, in dem sich der Rest des Helden verflüchtigte, "hinausgefegt" wird (s. 12), denke ich mir: Gut, jetzt ist Okroschkow wieder beisammen, er hat die Verwerfungen überwunden und ist bei sich, als Nichts.

Wsewolod Petrow · Daniel Jurjew (Hg.)
Wunder
Aus dem Russischen übersetzt von Daniel Jurjew
Friedenauer Presse
2019 · 120 Seiten · 18,00 Euro
ISBN:
978-3-932109-88-1

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