Schotten dicht
Wenn Mumey Brot essen will, dann taucht sein Urgroßvater Yoshiro es vorher in warme Sojamilch. Anders bekommt der Junge den harten Kanten nicht herunter. Etwas stimmt nicht mehr mit den Kindern, ihre Zähne sind brüchig, ihre Knochen gebrechlich, sie haben Fieber. „Heutzutage sind neunzig Prozent der Kinder immer ein wenig krank“, heißt es in Yoko Tawadas neuem Roman, so lapidar, wie nur sie Gewichtiges erzählen kann. Heutzutage, das bedeutet: nach der Katastrophe. Die Autorin entwirft in „Sendbo-o-te“ ein postapokalyptisches Japan; was genau geschehen ist, kann man sich nur ausmalen. Es ist gewiss keine fernliegende Assoziation, bei den siechen Menschen und aussterbenden Tieren zuerst an Fukushima zu denken. Das Thema war 2018 ohnehin sehr präsent in der erzählenden Literatur – da war etwa Adolf Muschgs für den Deutschen Buchpreis nominierter Roman „Heimkehr nach Fukushima“ oder Philipp Weiss‘ enorm beachtetes Debüt „Die Menschen sitzen am Weltenrand und lachen“; aus dem Japanischen übersetzt wurde Manichi Yoshimuras Dystopie „Kein schönerer Ort“. Die Texte sind inhaltlich wie stilistisch vollkommen unterschiedlich und beziehen sich mal explizit, mal indirekt auf die Dreifachkatastrophe vom März 2011; wer sich näher damit beschäftigen will, wie von einem Unglück diesen Ausmaßes literarisch erzählt werden kann, sollte unbedingt alle vier lesen.
Ähnlich wie bei Manichi Yoshimura ist das Japan, in dem Yoko Tawada „Sendbo-o-te“ ansiedelt, ein von Populismus, Patriotismus und Angstpolitik regiertes Land. Schutz sucht es in völliger Abschottung: „für die Außenwelt geschlossen“. Diese Abschottung ist auch und nicht zuletzt eine Abschottung von der Sprache der Anderen. Nicht nur die Lebensdauer der Kinder ist begrenzt, auch die der Worte. Fremdwörter dürfen nicht mehr benutzt werden, genau wie die Lehnworte, die durchaus zahlreich ihren Weg in die japanische Alltagssprache gefunden haben. Sie werden ersetzt, oft klingen diese Wortsurrogate zunächst grotesk, aus dem Overall ist ein „Kombinierer“ geworden. Das kaschiert keineswegs den Schrecken der von oben diktierten Sprache. Yoshiro hängt an den Worten selbst mindestens ebenso wie an dem, was sie bedeuten. Der Hundertjährige ist Schriftsteller, aber niemand kann lesen, was er schreibt: Sein Roman „Ken-to-shi – Sendboote nach China“ wurde nie gedruckt, weil dort die Namen ferner Orte vorkommen, und die sind tabu, sie könnten ja so etwas wie Fernweh hervorrufen. So hat er das Manuskript auf den „Friedhof der Dinge“ gebracht.
Was für ein passender Zufall, dass das Wort abschotten von den Schotten kommt, die Schiffe vor dem Eindringen von Wasser schützen. In Yoko Tawadas Schreiben geht es immer wieder um das Wasser, das Fließen, die Häfen und die Schiffe. „Mir kam es vor, als würde jetzt eine zweite Epoche der Isolation eintreten“, überlegte Tawada bereits in ihren Hamburger Poetikvorlesungen, die unter dem Titel „Fremde Wasser“ auch in Buchform erschienen sind - „jetzt“ hieß auch hier nach der Dreifachkatastrophe von Fukushima. Eine solche Epoche gab es also schon mal; in der Edo-Zeit hatte Japan alle Grenzen geschlossen, von 1630 bis 1853. Ausnahmen gab es für einige wenige Handelspartner, etwa Portugal und die Niederlande. Im Roman ist die Isolation Japans, scheint es, noch totalitärer als in der historischen Vergangenheit. Auch Yoshiro ist dieser Meinung, aber seinen Aufsatz mit dem Titel „Japan war nicht isoliert“ druckt keine Zeitung ab. Er wird wohl kaum gemieden, weil Leute denken, er würde sich irren – sondern eher, weil man zu gut weiß, dass er richtig liegt. Utopisch ist der Roman an den wenigen Stellen, wo Grenzen plötzlich fluide werden. Zum Beispiel zwischen den Spezies: „Sind wir in hunderttausend Jahren also alle Kraken?“ wird Yoshiro vom Bäcker gefragt. Aus Yoshiros Sicht wäre das ein Fortschritt.
Nach und nach offenbaren sich die tiefen Eingriffe der Politik ins Privatleben der Bürger*innen. Amana, Mumeys Großmutter, schickt Postkarten aus Okinawa; darin geht es immerzu um Obst. Niemand weiß, ob die Post zensiert wird oder ob Amana vielleicht einer Gehirnwäsche unterzogen wurde. Oder ob sie einfach nichts anderes zu berichten hat. Nichts ist sicher, nicht einmal dem Geschwätz von Ananas und Papaya ist zu trauen. Hoffnung wird im Geheimen genährt. In Yoshiro, der seinem Urenkel die verbotenen Worte beibringt, auch wenn er weiß, dass Mumey sie nicht benutzen darf, oder in Marika, die im Untergrund an einem Bürgerprojekt arbeitet, das sorgsam ausgewählte Kinder als „Sendboten“ ins Ausland schickt. Ob der schwache, kluge Mumey dafür infrage kommt?
Yoko Tawada kam in den 1980er-Jahren nach Deutschland und ist, entgegen ihrer eigenen Erwartung, geblieben. Sie schreibt Lyrik, Prosa und Theaterstücke sowohl auf Deutsch als auch auf Japanisch. Spätestens, wenn es in einem Seminar um Exophonie – also „Anderssprachigkeit“, das literarische Schreiben in einer anderen als der sogenannten Muttersprache – geht, ist Tawada aus der germanistischen Literaturwissenschaft nicht wegzudenken. Sie hat den Akutagawa- und den Kleist-Preis bekommen; ihre Bibliografie ist beachtlich. In Japan mischt sie sich immer wieder auch in öffentliche Debatten ein, vermehrt erhebt sie die Stimme gegen den Nationalismus der Regierung von Shinzō Abe, für den Austausch der Kulturen, die Offenheit. „Sendbo-o-te“ erschien zunächst auf Japanisch; übersetzt hat den Roman der renommierte Japanologe Peter Pörtner, der bereits Tawadas Romandebüt „Das Bad“ und seither einige weitere ihrer Prosatexte ins Deutsche übertragen hat. Stellenweise merkt man die Mühen, die es kosten muss, eine derart präzise, sich immer wieder auf selbst beziehende Sprache zu übersetzen, vor allem an den Stellen, wo die so entscheidenden Wandlungen der Alltagssprache zum Tragen kommen und es auf jedes Wort und jedes Zeichen ganz besonders ankommt. Leider, und das ist natürlich nicht dem Übersetzer anzukreiden, hätte der Roman ein gründlicheres Korrektorat benötigt, so hat er einige Kommas zu viel und manchen Buchstabendreher, statt einer Mandarinente begegnen wir einer Mandarinenente.
Dennoch stimmt Tawadas Roman über verlorene Freiheiten – der Sprache, des Denkens und des Handelns – nachdenklich stimmt und schärft vielleicht sogar den Blick für die schleichenden Veränderungen, die ein rückwärtsgewandter Populismus mit sich bringt. Noch dazu bekommt man den Schmerz einer Gesellschaft zu spüren, die ihre Kinder schützen will und nicht kann. In Japan, dem Land der Kinderlosen, wo ganz selbstverständlich Schoßhunde in Kinderwagen umhergeschoben werden, mag das nochmal ein anderer Schmerz sein. In Tawadas Roman ist Muttermilch giftig, die Babys aus Mumeys Generation werden nicht mehr gestillt. Sie werden auch nie auf einer Wiese picknicken gehen oder seltene Tiere zu Gesicht bekommen, werden nie Englisch lernen oder ein Flugzeug besteigen. Die Alten hingegen springen mit einer Energie auf ihre Fahrräder, von denen die Kinder nicht mal träumen können. Zum Spazierengehen können sie Hunde mieten, alle reinrassig. Yoshiro leiht sich jeden Morgen einen anderen aus, eine halbe Stunde rennt er mit Terrier, Dackel oder Schäferhund am Flussufer auf und ab. Was für ein komischer, todtrauriger Albtraum.
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