Anzeige
Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
x
Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Wider den Kapitalismus und für ein neues Denken

Alain Badiou über Politik nach den Morden von Paris
Hamburg

Alain Badiou gehört wohl zu den letzten klassischen Intellektuellen unserer Zeit. Zu einem Typus von Intellektuellen, die in öffentliche Debatten eingreifen und das Geschehen zu sortieren suchen. Einem Typus von Intellektuellen, wie sie typisch für Frankreich sind - oder waren. Das Frankreich, das diese Intellektuellen hervorbringen konnte, gibt es nämlich nicht mehr, genauso wenig wie die Welt, aus der sie kommen. Trotz allem versucht dieser lebende Anachronismus, Badiou, seinen Optimismus mit uns zu teilen. Produkt dieses Optimismus, der zur öffentlichen Intervention wird, ist die aktuelle Streitschrift mit dem griffigen Titel „Wider den globalen Kapitalismus“.

Auf knapp 70 Seiten den globalen Kapitalismus auseinander zu nehmen ist nicht möglich - entsprechend skizzenhaft sind die Darstellungen Badious, können Argumente nur angerissen und müssen viele Behauptungen vom Leser hingenommen werden. Die Streitschrift, die die Verschriftlichung eines Vortrags ist, gewinnt ihre Stärke aber auch aus ihrer Knappheit. Badious Analyse ist klassisch marxistisch, dabei aber simpel und immer wieder augenöffnend. In sieben Schritten geht er seinem Objekt, dem Zustand der Gegenwart, auf den Grund. Zunächst beschäftigt er sich mit dem, was er die heutige Welt nennt. Für Badiou siegt der Kapitalismus endgültig in den 80er-Jahren. In dieser Zeit gewinnt er seine „Ur-Energie“ zurück und wird damit zu einer nicht mehr zu bändigenden Kraft, die endgültig und alternativlos den ganzen Globus beherrscht. Diesem entfesselten Kapitalismus, der für Badiou rein liberal, ohne ein neo, daherkommt, haben wir die gegenwärtige Situation zu verdanken: ein von der Mittelschicht getragenner, von einer Oligarchie beherrschter Westen auf der einen Seite. Dem steht eine wehrlose Masse gegenüber, aus der sich ein islamistisch gefärbter Faschismus erhebt, der seine Manifestation im IS gefunden hat.

Ein paar Zahlen, die traurig stimmen, zählt Badiou auf. Die Mittelschicht: 40% der Weltbevölkerung, die 14% der Ressourcen besitzen. Die Oligarchie: 10% der Weltbevölkerung, die über 86% der Ressourcen verfügen können. Übrig bleiben: 50%, die gar keinen Zugang zu Ressourcen haben. Badiou erkennt hierin die Reproduktion feudaler Strukturen, die auf nationaler Ebene bereits überwunden geglaubt sind. Sie werden auf der globalen Ebene neu ausgespielt. Diese massive Ungerechtigkeit ist eine direkte Folge der Herrschaft des Kapitals und seiner brennenden Sehnsucht nach Gewinn. Dabei kommt der Mittelschicht eine besondere Rolle zu. Durfte sie einst als Bürger wählen, ist ihre Wahl heute die eines Konsumenten, dessen Konsum nur durch die Existenz als Erwerbstätiger aufrecht erhalten wird. Zudem wird die Mittelschicht von einer permanenten Abstiegsangst geprägt: das Phantom der Mittellosen geht um. Zugleich werden die Mittellosen mit Barbaren gleich gesetzt, ihre Existenz wird ausgeblendet, und wenn sie sich durch globale Migrationsbewegungen in das Herz Europas schieben, dann werden sie wieder verdrängt: psychologisch oder physisch. Eine dieser Migrationsbewegungen beruhte auf der Notwendigkeit von Arbeitskräften bis in die 1970er Jahre, sogenannte Gastarbeiter, die einfach weiter in den Gastländern blieben, aber nie ankommen durften. Deren Kinder sind es jetzt, die zu Mittellosen in Reichweite der Mittelschicht wurden, und hier ist der Nährboden für Radikalismus angelegt. Die zweite Welle ist die Welle der Flüchtlinge, die Europa so dringend als Zuflucht brauchen, stattdessen aber im Mittelmeer versenkt werden sollen.

Diese Ungleichheiten gehen für Badiou mit drei verschiedenen Subjektivitäten einher. Die erste Subjektivität ist die der Mittelschicht, die sich um die verbliebenen 14% der Ressourcen bemühen darf. Stolz bestimmt diese Subjektivität, aber auch Angst: Die Krümel des Kuchens können jederzeit weniger werden. Der nächste Typus ist der Typus einer Sehnsucht nach dem Westen und seinen Errungenschaften, der dritte und gefährlichste ist der Typus eines faschistischen Nihilismus. Für Badiou vereinigt sich hier eine enttäuschte Sehnsucht nach dem Westen mit Verzweiflung. Dieser dritte Typus bringt den Terrorismus hervor. Alle Typen sind Produkte des Kapitalismus und alle drei bestimmen unsere Weltpolitik heute.

Den Philosophen, Autor, Mathematiker als

Modedenker, der bei jungen Hipstern beliebt ist

zu bezeichnen (neues deutschland), wird der Komplexität und Stärke von Badiou nicht gerecht. Sein Erfolg beruht nicht auf Anschlussfähigkeit, beruht nicht auf einem Modephänomen, das damit zugleich vergänglich wäre. Vielmehr ist er der Fürsprecher einer von ihm geforderten „neuen Subjektivität“, wie er sie nennt. Im Anschluss an die drei vorgestellten Subjektivitäten ist diese neue, vierte Subjektivität eine dem Kapitalismus entzogene. Dieses neue Denken ist für Badiou die einzige Möglichkeit, die Kapitalmaschine zum Stillstand zu bringen. Neue Allianzen, neue Wege und neue, überraschende Denkmuster soll eben jene Subjektivität hervorbringen.

Eine der Allianzen, die Badiou selbst vorschlägt, wäre der Brückenschlag zwischen „Intellektuellen“ und „Flüchtlingen“. Hier zeigt sich das Denkmuster des klassischen Intellektuellen: Wer sind Intellektuelle? Wer zählt zu dieser Kaste? Wer nicht? Diese Perspektive auf etwas, das letztlich eine intellektuelle Elite darstellt, ist im 21. Jahrhundert wohl nicht mehr zeitgemäß. Dennoch ist Badiou darin zuzustimmen, dass die Stimme der 50% der Entrechteten, egal wo auf der Welt wir, die Mittelschicht, ihnen begegnen, gehört werden muss. Ihnen nicht "eine Stimme zu geben", sondern die vorhandene Stimme wahrzunehmen, gehört zu den Herausforderungen unserer Zeit. Damit wir unserer Enkelgeneration nicht sagen müssen, wir wussten nichts von all der Ungerechtigkeit. Damit wir unserem eigenen Gewissen gegenüber nicht ständig in Ausreden verfallen müssen. Denn, um es mit Badiou zu sagen: Die Zeit drängt.

Alain Badiou
Wider den globalen Kapitalismus
Für ein neues Denken in der Politik nach den Morden von Paris
Übersetzung:
Caroline Gutberlet
Ullstein
2016 · 64 Seiten · 7,00 Euro
ISBN:
9783550081521

Fixpoetry 2016
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge