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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Spuren, entwischte

Verwischte Spuren erwarten den Leser von Alexandru Bulucz' Gedichtband "Aus sein auf uns"
Hamburg

Das Orakulare, das Divinatorische, die Poetik und die Hermeneutik unterhalten enge Verbindungen zueinander. Vor allem teilen sie das >Außer-sich-sein, von-Sinnen-sein< (ekphron), was die absolute Bedingung der poetischen >Kreation< ist.

(Jean-Luc Nancy, "Die Mit-Teilung der Stimmen" ("Le partage des voix"))

Kaum ein Wort gibt sich einfach zu erkennen (als Wort) und tauscht, wenn es auftaucht, den Deckmantel seines Entstehens gegen das nackte Dasein ein und aus. Kaum Raum (er)öffnet sich mit jedem Gedicht, mit jeder Seite, mit jedem Fenster. Kaum Hoffnung also auf kommende Wörter im Herzen oder auf ein Schweigen im richtigen Augenblick.

Erträumte Placebos, verwischte Spuren erwarten den Leser von Alexandru Bulucz' Gedichtband Aus sein auf uns gleich im ersten Gedicht „Von deiner weißen Zunge“, das sehr schnell die klaffende Lücke vor Augen führt, die es zwischen den Worten im Gedicht und dem Leser dieser Worte gibt, trotz und gerade wegen jeder Nähe, die nicht nur suggeriert, sondern auch tatsächlich gebildet werden mag. Wie unheimlich das Nahe der Nähe an uns herantritt, verrät auch das Eingeständnis Kristoffer Patrick Cornils im Nachwort,

dass ich die Texte, die ich gelesen hatte, nicht wirklich mochte.

Die Äußerung – vielleicht eine Frage von Selbstschutz, Unverständnis oder Geschmack – schützt ihn und uns letztlich doch nicht davor, sich nicht in die Fänge der Spinne (Bulucz) zu begeben.

Von innen
her träumen wir früher,
rollen schneller die Augen,
weben wie Spinnen im Fenster
Bilder, hungrige Bilder. Vom Bett

aus verwischen wir Spuren.

(„Von deiner weißen Zunge“)

Hatte bereits Peter Huchel in seinem Gedicht „Kreuzspinne“ den Faden zwischen Traum und Spinne gesponnen, mit den vieldeutigen Versen

Noch hält das Netz der Träume dicht,
mag auch die Mauer dunkeln.
Die Spinne trägt ihr Kreuz ins Licht

und alle Fäden funkeln.

gibt es bei Bulucz dieses Auffunkeln möglicher undichter Stellen nicht. Das Spurenverwischen geschieht im Traum und das Webspiel der Spinnen ist Ver- oder Über-weben. Die Augen rollen wie Spinnräder, das rapid eye movement führt das Frühere als Gegenwärtiges vor, kleidet es in Bilder, in Sprache. Wittgenstein schreibt im Tractatus:

Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache, und sie schien es nur unerbittlich zu wiederholen.

Auch hier der Schein unerbittlicher Wiederholung und das Gedicht als Ort des Bettmachens und Bereinigens? Natürlich bleibt es kompliziert. Hier wird kein Atem gewendet, hier wird das Atmen mit Cioran als Programm verteidigt („Fragt mich nicht nach meinem Programm: Atmen, ist das keines?“). Hier ereignet sich etwas – auch, wenn es nicht das Eigene ist –, hier wird gelebt oder Gelebtes vorgelebt, das sich nicht mehr erleben, aber vielleicht nachleben lässt. Um was für Gedichte handelt es sich also, um „Daseinsentwürfe“, um Zeugnisse der Wirklichkeit? Gewiss ist hier etwas anwesend, doch oft genug verbirgt sich hinter der Clownsmaske nicht Celan, sondern etwas Stummes, weitere Masken oder etwa Niemand.

Lacan hat darauf hingewiesen, dass das Unbewußte als Sprache erscheint bzw. strukturiert ist. In Bulucz' Gedicht „Stumme Geschichte“ – der Titel spielt mit dem Begriff mythos, der beides bedeuten kann – ist der Traum erfüllt vom Geschmack des Vergangenen (und in Form der Kindheit? Präsenten) und vom vergangenen Geschmack, genauer von demjenigen, „was sich versteckt hinter dem Geschmack“. Auch hier geht es um die Spuren, die sich so nicht erschmecken lassen, sogar um Bewegungen, die es nicht gab, aber hätte geben können, um die in Sprache gefasste Erinnerung an Träume. Auch die sich kurz – begleitet von winzigen Worten – zeigenden Käfer deuten leise das Alptraumhafte an, das die Lektüre von Kafkas Die Verwandlung für manche bedeuten mag. Bei Bulucz werden auch Gespräche mit Käfern nicht gescheut, selbst dann, wenn es eigentlich nichts oder nicht mehr als das Nichts zu sagen gibt. Überraschend ist vielleicht die angedeutete Verbindung von Sprache oder Gespräch und Nahrung, wobei auch dort die Sprache oft ausbleibt und ersetzt wird z. B. durch Brot:

Da hast du's: Der Honig steht Rede.
Der Honig hält Brot.

Auch Namen – und nicht nur die – verlieren sich in Heu, Akten oder Wolken („doch vom Wort / kein Wort, keine Spur“), die Gedichte allerdings fahren unbeirrt fort. Selbst dem Tod wird so ein Schnippchen geschlagen:

Aber einen Moment lang schlief ich
für immer.
[…]
Ich will nicht das Rad
neu erfinden, will überhaupt nicht viel, höchstens das i

streichen. Doch kaum dass man mich nach mir fragt,
antwortet es: ch.

Man kommt bei Bulucz nicht umhin, genauer über den Verlust nachzudenken, der mal zwischen moment- und endgültig changiert oder zwischen Haben und Sein oder Nicht-Haben und Nicht-Sein. Das Gedicht „Morbus Korsakow“ schließt mit den kursivierten Versen „Ich habe mich sozusagen / verloren.“ Das Sozusagen – das auch Bestandteil eines von Bulucz gehaltenen und hoffentlich bald veröffentlichten Gespräches mit Robert Spaemann ist – trennt, als hilfloser Versuch etwas anderes zu sagen und Worte zu finden, die fehlerhafte Spiegelung (von Ich und mich) vom erfolgten Verlust.

Die Unschärfe zwischen Ich und Nicht-Ich korreliert oft mit Formen des Sagens, des Hörens, mit Buberschen Kategorien … und so geht es in diesen Gedichten oft um die (be)greifende Ausstellung des (endgültigen) Verlustes. Die entfernt an T.S. Eliot („In my beginning is my end – In my end is my beginning“) erinnernden Verse

Dann hörte ich, wie etwas zu Ende ging
und gleichzeitig etwas Neues begänne,
hörte auf das Spiel, hörte auf die dem Spiel eigene Stille

münden entweder in die auflösende Stille des Spiels oder des Tanzes:

Der von der Flut
durchlöcherte Rumpf des Schiffs tanzt
auf dem Meer. Warum sich dran klammern? Er tanzt ja.

Gestochen unscharf bleiben diese Verse häufig, weil es ihnen nicht bloß um Bilder – man denke dennoch an das horazische ut pictura poesis – oder Gemälde – erwähnt, aber nicht abgedruckt werden Beckmann, Heckel, Werres – geht, sondern auch um die Abwesenheit dieser Bilder oder schlicht ihr Vergessen. Im Gedicht „Eine Wolke“ entwickeln sich Stiche (nicht Striche) zu Beulen, um wieder in einem Stich zu kulminieren:

In einem deiner Schnakenstiche
habe ich mein Zelt aufgeschlagen.

Dazwischen stößt man bei der Suche nach der titelgebende Wolke auf „ein Stück Weiß“, das ebenso dasjenige des „Stolperfleisch[es]“ sein könnte. Letztlich verschwindet diese aber mit anderen Deutungsmöglichkeiten in den wolkigen Stellen und im Weiß der Seiten. Wenn es in diesem Gedicht heißt

Ich soll auf deine Beine schauen:
Die Beulen
gehen bruchlos auf

wie mein Plan

dann gehen hier nicht nur die Beulen anstatt der Beine, dann kann es zwar auch genau um diesen einen Plan gehen, aber es kann auch bloß um das wie gehen und damit um einen anderen Plan, (der dem Vergessen anheimfällt?). Sicherlich geht es aber auch um Aufarbeitung, um Linderung, damit am Ende das Vergessen (geschrieben) stehen kann.

Wenn du sie aufkratzt,
klafft ein Stück Weiß
in ihnen: Du
vergisst alles.

Thomas Schestag, der nicht nur vertraut mit Wolken, Flecken und Kritzeleien ist (so in Lesen – Sprechen – Schreiben (Kritzeln)), sondern auch den „einschneidenden Duktus des Schreibens“ kennt

wie ihn das griechische Verb graphein nahelegt: <eig. schrapen (von dem Tone, der entsteht, wenn ein spitzes Instrument in einen festen Körper einschneidet). […] Von Pindar und Herodot an ist die gewöhnliche Bedeutung des Worts: Striche oder Züge eingraben (in Metall, Holz, Stein, Wachs), schreiben, zeichnen, malen>

(Schestag zitiert hier in seinem philologischen Kommentar zu Francis Ponges "L'Opinion changée quant aux Fleurs" aus Franz Passows "Handwörterbuch der griechischen Sprache")

hilft hier gewiss beim Spurenlesen. In Bulucz' Gedicht fällt allerdings auch auf, dass das Aufkratzen nur als Antezedens in die Konsequenz eines Klaffens mündet, es also um eine mögliche logische Abfolge geht und nicht um tatsächliches Kratzen und Klaffen. Begleitet wird dies von einer Doppelung eines Du, das – mal klein, mal groß – als handelndes angesprochen wird und selbst als das Klaffende, das weiß und dann ganz vergessen ist.

In der Wolkigkeit dieser Formulierungen stecken das Wissen und der Verlust dieses Wissens, aber auch das Wissen um Verlust und Vergessen. Zum

Ich habe mich
vergessen

– um die Verse aus „Morbus Korsakow“ weiterzuspinnen – kommt ein

Ich habe dich
vergessen

ebenso hinzu wie ein

Du hast dich
vergessen

oder ein

Du hast mich
vergessen.

Unter all den Fragen, die man sich stellen kann, ist also erneut diejenige nach dem Besitz des Verlustes – vielleicht auch diejenige nach der Lust des Verlustes – und wer hier eigentlich von wem besessen ist/wird. (Unterbrochen werden diese Begleiterscheinungen beim Weiterlesen durch die Erinnerungskraft des Erinnerns und/oder Vergessens: „Alles, selbst das Vergessen, / erinnerte an die Form des Erinnerns,“ (der Titel ist hier auch die erste Zeile)).

Der unvergessliche Paul Celan bleibt bei Bulucz oft als großer Gesprächspartner präsent. Er wird vielfach angesprochen und übersprochen: Titel wie „Gespräch im Gebirg II“ und „Gastritis (Celan mit Clownsmaske)“ zeugen u.a. ebenso davon wie Celans Gedichte „Die Silbe Schmerz“ oder „Mandorla“, die bei Bulucz zu „die Silbe Mund“ und „Grandola“ transformiert scheinen.

[...]
Es fuhren
wortfreie Stimmen rings, Leerformen, alles
ging in sie ein, gemischt
und entmischt
und wieder
gemischt

heißt es in Celans „Die Silbe Schmerz“. Es ist ein großes Glück, dass Bulucz' Gedichte nicht einfach nur vermischen und entmischen, bis nur noch wortfreie Leerformen übrig sind. Dadurch entwischen nicht alle verwischten Spuren in den Gedichten, und die Hinweise auf Bulucz' große Lektüren bleiben ein Zubrot für den Leser. Der Einfluss Celans verwundert übrigens kaum, ist Bulucz doch bei Werner Hamacher in die Schmiede gegangen, bei jemandem, „der prägend wirkte“ wie es in Bulucz' Gespräch Sterbliche Gedanken mit Dieter Henrich heißt. Was genau das bedeutet, zeigt ein kurzer Blick auf Hamachers bedeutende Studien zu Benjamin The Word Wolke – if it is one – bei der der Titel Bestandteil des ersten Satzes ist – und Die Geste im Namen zu Benjamin und Kafka.

For in the Worte, 'word,' due to its likeness to Wolke, 'cloud'“ schreibt Hamacher, „language stands on the threshold of forgetting everything that may be meant in it. Cloud – but not this single word, for it is disfigured; not the thing, which is never one and never assumes a lasting form; not the vague representation or idea, for what is an idea, if it is vague? – 'cloud' is, in a certain sense, the forgetting of ascertained meaning, of linguistic convention and everything that can enter into its space. And whoever uses this 'word' has already fallen into this forgetting and can no longer become like himself. When he writes Wolke, it is only as that word which hinders him from knowing what a word is and whether he even writes it.

(Hamacher, "The Word Wolke – if it is one")

Zum einen können Hamachers Ausführungen so gelesen werden, dass sie den Zusammenhang von Wolke und Vergessen, von Vagheit und Schwelle auch bei Bulucz erklären, zum anderen eröffnen sie auch für das Gedicht „Die Wolke im Namen“ eine interessante Perspektive. Diese lässt sich durch Hamachers Analyse zum gestischen Gebrauch des Namens bei Kafka in Die Geste im Namen erweitern, da dort eine Begegnung des Unentscheidbaren mit der Entscheidung, mit dem „Zweideutige[n], Instransparente[n], [ ] Wolkige[n]“ verhandelt wird. Die Namen (Kafkas), die

Effekte einer Bewegung [sind], die sich in keinem substantiellen Punkt verdichten läßt

bezeichnet Hamacher als Dissemiose. Diese Dissemiose aber findet in Bulucz' Gedichten – und wohl nur dort – ihre Verdichtung.

Ich meldete mich auf der Wache, um als Zeuge auszusagen.
Die Polizistin öffnete die Akte Bulucz.
Dachte ich zumindest, denn auf dem Etikett stand Akbulut.
Dann stellte sich heraus, dass wir beide Wolken waren,

aus der Turksprache aufgetaucht.

Der Akt der Bewegung von Bulucz zu Akbulut verläuft sich in der Doppelung der Wolke:

Sie eine weiße Wolke, ich auch,
vielleicht weißer als weiß.

Diese Erkenntnis des lyrischen Ichs, eine Wolke zu sein, ist mehr als eine bloße Spielerei, die sich z. B. in Motivketten wie Klauen, Clown und Cloud einreiht, sie erklärt auf die schönste Art, warum hier Spuren entwischen und mir, warum ich die Texte, die ich gelesen hatte, wirklich mochte.

 

Alexandru Bulucz
Aus sein auf uns
Nachwort: Kristoffer Patrick Cornils
Lyrikedition 2000
2016 · 64 Seiten · 9,50 Euro
ISBN:
978-3869068527

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