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Kritik

Ethnographie statt Heldensaga

Alissa Ganijewa beschreibt einen ebenso unbekannten wie undurchsichtigen Landstrich Russlands, zugespitzt und doch realistisch.
Hamburg

Als sie nach Moskau kam, erzählt Alissa Ganijewa, musste sie vielen Russen erklären, dass Dagestan, ihre Herkunftsregion, zu Russland gehört. Obwohl Dagestan zum unruhigsten Gebiet des Nordkaukasus gehört, weiß man kaum etwas über diese Region. Daran haben auch die Olympischen Winterspiele in Sotschi nichts grundlegend geändert.

Dabei ist diese Region nicht nur reich an Ethnien, sondern auch an Geschichten.

Darginer, Awaren, Lesginen, Jumyken, Achwachen, Tschamalen, Laken, Adyger, all diese Volksgruppen bevölkern Ganijewas Roman. Gleich zu Anfang wird der Leser nicht nur mit einer Vielzahl von Personen konfrontiert, sondern ebenso mit deren Eigenarten und unübersetzbaren Ausdrücken. Die Übersetzerin Christiane Körner löst das Problem mit einer Vielzahl von Fußnoten, in denen Wendungen, Ausdrücke und Gebräuche der verschiedenen Volksgruppen erklärt werden. Eine Vorgehensweise, die die Schwierigkeiten des Zusammenlebens abbildet, mir als Leserin aber gleichzeitig den Einstieg und die Orientierung erschwert.

In einem Interview zu ihrem Roman erklärte Ganijewa: „Ich halte mich an das Prinzip der herumwirbelnden Personen und herumwirbelnden Namen und Ideen. Schamil führt durch dieses Gewirr, aber er ist nicht mehr handlungsfähig, er trägt nicht den Funken eines Helden in sich.“

Und so ist Schamils Geschichte auch nur eine unter vielen, die weniger erzählt als erwähnt wird. Schamil taucht überhaupt erst im zweiten Teil des Romans auf, nachdem der Leser erfahren hat, wie sehr der Islam den Alltag und selbst die Wissenschaft in Dagestan durchdringt. So wird eine Sure aus dem Koran durchaus als geeignet angesehen, um die Erdanziehungskraft zu erklären:

„Und im heiligen Monat Ramadan begannen mein Sohn und ich mit dieser Hypothese zu arbeiten, wir studierten die Ayas. Und wir haben bewiesen, dass im Weltraum keine Leere ist, sondern ein Urfeld, das auf die Körper Druck ausübt, revoltiert und in den Ruhezustand zurückkehren will. Deshalb gibt es die Erdanziehung, deshalb gibt es das Trägheitsgesetz, deshalb gibt es keinen Stillstand in der Welt! Unser Buch ist erschienen, und niemand hat uns widerlegt! Niemand! Dann haben wir im Koran alle Bausteine für das Universum gefunden – Protonen, Neutronen, die Struktur der Elektronen...“

Schamil, der Nichtheld des Romans, reist als Lokalreporter in ein abgelegenes Dorf um eine Reportage über die Kunst des Waffenschmiedens zu verfassen, als ihn das Gerücht erreicht, dass ein Grenzwall errichtet wird, um den Kaukasus von Russland zu isolieren. Er bewegt sich durch die Stadt, während die Gerüchte schwelen, gleichzeitig wird eine Hochzeit vorbereitet und Schamils Verlobte Madina trennt sich von ihm, um einen Salafisten zu heiraten.

Wieder tauchen unzählige Personen auf, religiöse und ethnische Konflikte werden anhand von Familiengeschichten auf ihre Wurzeln zurückgeführt. Das ist von der Idee her sinnvoll, liest sich aber wie ein Flickwerk, weil Ganijewa ihren Personen nicht erlaubt, sich zu entfalten. Sie benutzt sie lediglich um Informationen zu transportieren.

Religiös motivierte Streitgespräche, und Geschichten in denen religiöse Überzeugungen eine große Rolle spielen, vermitteln dennoch ein lebhaftes Bild davon, wie schwierig sich das Zusammenleben im Nordkaukasus gestaltet.

„Alte Beziehungen zerbrachen, die Leute veränderten sich unentwegt. Im Versuch, den Zerfall der Welt aufzuhalten, sah sich Schamil pausenlos verbotene nichtmuslimische Filme an, trainierte mit doppelter Anstrengung im Studio oder schaute bei Verwandten vorbei.“

Dieses Zitat fasst die Handlung des gesamten Buches recht gut zusammen.

Aber um Handlung ist es Ganijewa auch nicht gegangen in „Die russische Mauer“. Sie wollte die Lage und das Leben in Dagestan anschaulich machen und hat sich, um dieses Ziel zu erreichen für eine Collage aus Texten entschieden. Ich persönlich finde das schade, denn sie kann erzählen, und Personen mit wenigen Worten lebendig charakterisieren:

„Chandulai, kräftig, pausbäckig und mit bestem Getreide-, Fleisch- und Milchspeisen großgezogen, hat seit früher Kindheit nichts anderes als Eile gekannt.“

Im Roman übernehmen schließlich die Islamisten die Herrschaft, aber auch ihnen geht es eher um Macht und Prestige als um Moral. Madina ist enttäuscht und Schamil heiratet schließlich eine andere Frau.

Ganijewa hat ein soziologisches, ethnographisches, politisches, aufklärerisches Buch geschrieben. Und genau das ist es, was ihrem Roman in meinen Augen nicht gut getan hat. Er ist zu ambitioniert, will zu viel. Möglicherweise ist das aber nicht so sehr ein literarisches als vielmehr ein kulturelles Problem und meine Probleme mit ihrem Roman liegen nur an dieser Vielzahl von Fäden, mit denen Ganijewa groß geworden ist, und die mir so fremd sind.

 

Alissa Ganijewa
Die russische Mauer
Aus dem Russischen von Christiane Körner
Suhrkamp
2014 · 232 Seiten · 22,95 Euro
ISBN:
978-3-518-42425-4

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