Hochliterarische Protokolle über den Kibbuz der 1950er Jahre
Wie stellt sich das Leben dar in den israelischen Kibbuzim Mitte, Ende der 1950er Jahre, und wie lässt sich via Literatur, Prosa ein Extra an Klarheit, Eindringlichkeit gegenüber einem soziologischen Bericht erzielen?
Man nehme acht Geschichten (so auch vom Verlag genannt), die zwar wahrhaftig für sich selbst stehen können, wegen ihres wiederkehrenden Personals und einer Art logischen Fortlaufs der Prozesse manchem wie ein Roman vorkommen mögen. Zumal es die eine dominierende Thematik an diesem einen, manchem Mitbewohner offensichtlich engen Ort, dem Kibbuz mit dem fiktiven Namen, dem Kibbuz Jikhat gibt: Hat der Kibbuz dem Individuum genügend Wärme spenden können?
Es dürfte viel an persönlicher Bilanz des hochgeschätzten israelischen Autors Amos Oz in seine Geschichten eingeflossen sein, da er selber 1954, fünfzehnjährig, in einen Kibbuz eintrat, um dort beinah dreißig Jahre zu verbringen.
Wird es sich etwa um eine wütende Abrechnung handeln, ein einziges Loblied vielleicht? Natürlich um eine Darstellung in Farbigkeit, die zwangsläufig jegliche Schwarz-Weiß-Sicht ausschließt, deshalb gegen Ideologie und Dogma, gleichwohl sehr für Grundsätze eintritt, die sich vornehmlich dem flexiblen Stützen des Schwachen verpflichtet wissen.
Die Protagonisten in diesen kunstvollen Prosaminiaturen (die Dialoge erstellen spezifisches Profil nicht zuletzt mittels Humor; kurze erzählende Passagen runden die Botschaft atmosphärisch ab)vertreten den Typ des Antihelden wie etwa: der nachdenkliche junge Kibbuznik, äußerlich robust, dabei schüchtern und wortkarg, der unvermittelt die Äußerung tätigt: „Der Mensch ist grundsätzlich ein deformiertes Wesen.“; die verlassene Frau, welche der neuen die Liste seiner Medikamente nebst Dosierung nennt und um Einhaltung des gewohnten Speiseplans fleht: „Er sollte den Salat ohne schwarzen Pfeffer und mit sehr wenig Salz essen.“
Auch im Kibbuz, will Oz uns sagen, kommt der Mensch nicht aus seinen Widersprüchlichkeiten heraus, niemand ist nur der, als der er scheint: Im Buch ist der ständige Schwarzmaler gleichzeitig wunderbarer Gärtner; der notorische Spötter ist der zärtlichste Vater.
Auch den Führungspersonen im Kibbuz Jikhat spricht der Erzählerchronist - da selber Kibbuzmitglied, gewinnt er unser Vertrauen - bei aller Reserve, Befremden gegenüber deren scheinbar unbeugsamen, unmenschlichen Prinzipientreue, auch sympathische Züge zu. Verlangen sie etwa kategorisch von den Eltern, dass Kinder, in einem abgesonderten „Kinderhaus“ zu übernachten haben, so ist es doch gerade der Kibbuzsekretär, der von der Imkerin den Vorschlag hinsichtlich des geeigneten Studiums für seinen Sohn annimmt (der Buchaussage entsprechend Tiermedizin statt Maschinenbau), einer Frau, von der manche missgünstig meinen: „Diese Frau hat beschlossen, die Oppositionsführerin im Kibbuz Jikhat zu werden.“
Allgegenwärtig im Kibbuz ist aber die Berührungsangst .Oz, in seiner Fähigkeit, Figuren über deren Sprache und Verhalten holzschnittartig erstehen zu lassen, erfindet rührende Ersatzstrategien oder –gesten. So die Tochter, die immer dasitzt, mit den Armen um ihre Schultern geschlungen. Der emotionale Vater abseits.
Verständlich, dass manch ein, vor allem junger Kibbuznik daran denkt, die Gemeinschaft: vorübergehend?, für immer?, zu verlassen. Aber wie sollen sie sich bloß entscheiden? Bis dahin wird das Radio herhalten, ein ständig wiederkehrendes Symbol für Kontakt mit der Außenwelt, Ablenkung und zusätzliche Orientierung versprechend, aber auch die Illusion der Allwissenheit.
Zu den besten Geschichten in Oz‘ neuem Erzählungsband zählt die vorletzte: „Deir Adschlun“.
In ihr hat der Jugendliche das Kibbuzgelände für Momente verlassen auf der Suche nach Orientierung, geht wie selbstverständlich zu den Ruinen des zerstörten palästinensischen Dorfes, das Detail dürfte Erzähler und Autor wichtig sein, in direkter Nachbarschaft: „Endlich erreichte er den zugeschütteten Brunnen, aus dessen Tiefe ein leichter Aasgeruch aufstieg. … Aus der Ferne drangen die Geräusche des Kibbuz zu ihm, seltsam dumpf. … Er beugte sich über den Brunnenrand, sah aber nichts als Finsternis.“
Das Leben im Kibbuz bleibt in der Schwebe, aber inmitten großer Skepsis bei einer Anzahl seiner Mitglieder lässt der Erzähler die kraftvolle Imkerin mit einer ausführlichen Bestandsaufnahme, auch hoffnungsfrohen Zukunftsperspektive zu Wort kommen: „In zehn oder zwanzig Jahren … wird sich der Kibbuz in einen Ort von größerer Ruhe und Gelassenheit verwandelt haben. Jetzt sind alle Sprungfedern noch bis zum äußersten gespannt, und der ganze Apparat zittert vor Anstrengung. Die Veteranen aus der Gründergeneration sind eigentlich fromme Menschen, die die Religion verlassen und sich eine neue Religion geschaffen haben, voller Sünden und Vergehen, Verboten und Geboten. Sie haben im Grunde nie aufgehört, orthodox zu sein, sie haben nur die Frömmigkeit gegen eine andere getauscht. Marx ist ihr Talmud, die Vollversammlung ist ihre Synagoge, und David Dagan (der Lehrer, R.S.) ist der Rabbiner. … Aber die Zeiten werden sich ändern, und statt der Orthodoxen werden Menschen wie du kommen, Joav (der Kibbuzsekretär, R.S.), die gelassener sind als die Veteranen der Gründergeneration, Menschen, die Geduld und Zweifel und Erbarmen haben.“
Ja, und wie symbolträchtig schließt Oz doch seinen Erzählungsband ab, indem er der Erzählung „Esperanto“ den nachhallenden Ton einräumt: Wie großartig, dass im Kibbuz weitsichtige Menschen leben, Idealisten wie der alte Schuster und frühere Rotterdamer Esperantolehrer, der Privatbesitz und Staaten ablehnt: „Wenn alle Menschen eine gemeinsame Sprache sprechen, gibt es keine Kriege mehr, denn die gemeinsame Sprache wird Missverständnisse zwischen den Einzelnen und auch zwischen den Völkern verhindern.“ Nur eine Stunde allerdings kann er in der neuen Umgebung halten, dann stirbt er. (Hat vorher aber noch kichernd gesagt, „eigentlich sei auch der Tod ein Anarchist.“ )
Der Leser versteht: Im Kibbuz damals ging es nicht voran wie geschmiert. Aber es gab Stärken und Hoffnung. Will Oz dem heutigen Israel die Augen öffnen, einen Stoß geben?
Unter Freunden, der Leser weiß längst, dass der Buchtitel keineswegs nur ironisch gemeint ist, ist ein Buch, das verständlich macht, wieso Amos Oz ein solch reicher Mensch, ein großer Literat geworden ist, der auch in diesem Jahr wieder im Vorderfeld für den Literaturnobelpreis gesehen wird: Im Kibbuz – gute Schule offensichtlich für einen Schriftsteller - hat er das menschliche Streben ausführlich erlebt, das von Widersprüchen, Grausamkeit und Sanftmut, von Zögerlichkeit und Anpacken, dabei von zu großen Erwartungen geprägt scheint.
So gesehen enthält dieser lesenswerte Erzählungsband dann wohl die Botschaft an sein heutiges Israel: Seien wir doch solidarisch in unserem Streben nach Toleranz, vergesst Ideologie und Dogma, lasst Berührung zu, aber auch Privatheit, lasst Leben zu untereinander, zwischen Mensch und Tier und zwischen den Staaten.
Mirjam Pressler hat hier so sorgsam aus dem Hebräischen übersetzt, dass man meint, einen deutschen Originaltext vor sich zu haben.
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