Saarlouis noir statt Vazäälches
Erstaunlicherweise ist die Stadt Saarlouis für die bundesrepublikanische Nachkriegsliteratur ein bisher weitgehend unbekannter Topos. Freilich hat die Stadt in Alfred Gulden einen fähigen Chronisten. Das Problem an Chroniken ist jedoch, dass das Typische in den Vordergrund gerückt wird. »Wer in seinem Winkel nichts sieht, der sieht auch nichts in der Welt.« Man muss das Multitalent Alfred Gulden etwas kennen, damit einem in den aktuellen rechtsalternativen Zeiten diese Maxime nicht im Hals stecken bleibt. Man muss auch bereit sein, an einen linken Regionalismus zu glauben. Und selbst dann stolziert ein solcher, sagen wir: humanistisch gesinnter, Regionalismus durch den literarische Szene; er wird, zum Teil unter geschmäcklerischen Vorzeichen, gepriesen und allzu rasch für mustergültig erklärt, sehr zuungunsten des Devianten, des Abseitigen, des Grotesken. Diese Aspekte gehören jedoch ebenso wie das Offizielle, das Authentische zu den Spielarten der Regionalliteratur, auf deren beständige Gefahr, in Bräsigkeit und Kitsch abzurutschen an dieser Stelle nur kurz und seufzend hingewiesen sei. Jeder, der seinen Winkel mal für längere Zeit verlassen hat, wird um diese Gefährdetheit von Literatur mit zu großem Faible fürs Lokalkolorit wissen.
Bereits der Titel den der Saarlouiser Autor Andreas H. Drescher für sein Buch gewählt hat, gibt einen recht genauen Hinweis darauf, dass hier nicht mit gesittetem Realismus oder einem Sittengemälde gerechnet werden darf. Genrekenner werden vielleicht eine Assoziation zur Gruselkomödie »Adam’s Familiy« haben; dort hat ein »Eiskaltes Händchen« mehrere Auftritte; an den Saaraltarm inmitten von Saarlouis lässt sich denken. Die berührende Liebesgeschichte »Sojamilch-Regatta« streift diesen besonderen Flecken von Saarlouis, den »Alt-Arm des Flusses«. Der Autor selbst gibt eine sozialromantisch anmutende Erklärung für die Titelwahl in einer dem Text vorangestellten Vorbemerkung. Die Überschrift sollte man aber eher als Geste des Erzählers verstehen, weniger als Versuch, die »Geschichten einer Gegend« qua Überschrift auf einen Nenner zu bringen.
Walter Benjamins immer noch immer sehr lesenswerten Aufsatz »Der Erzähler« schließt mit den Worten: »Der Erzähler ist die Gestalt, in der der Gerechte sich selbst begegnet.« Man muss sich an diesen sentenziösen Ausspruch, und den Benjamin’schen Argumentationsgang dahin, zu dieser für postmoderne Ohren so donnernd pathetischen Konklusion, erinnern, um eine Idee von der Klugheit von Dreschers Konzept zu bekommen. Er hätte sich ja ebenso gut mit dem Verfassen einiger Reportagen oder eines süffigen Romans begnügen können. Der in Saarlouis aufgewachsene Autor gehört aber offenbar zur eigentümlichen (und eigentümlicher Weise seltener werdenden) Sorte Autoren, die recherchiert, ehe sie einen Plot entwirft, Figuren zeichnet, Dialoge schreibt. Theoriebeseelte Literaturkritiker sind schnell geneigt, darin einen Mangel genuiner schriftstellerischer Einbildungskraft zu sehen. Es geht Drescher indes nicht um die Aufzeichnung und Wiedergabe der Singularität einer landestypischen Lebensweise. Insofern kann der Zusatztitel (»Geschichten einer Gegend«) durchaus falsche Erwartungen wecken.
Was Andreas Drescher vorgelegt hat, das ist ein über weite Strecken vitales Panorama von Bewohnern der Stadt Saarlouis und Umgebung im vergangenen und in diesem Jahrhundert. Dies in einer strikt durchgehaltenen Episodik. Verbindendendes Element ist die soziale Randlange seiner Figuren. Im Neudeutsch der Selbstoptimierungsgesellschaft unter postfaktischen Vorzeichen wäre dieser Personenkreis als Ansammlung von Nerds, Freaks und Geeks zu bezeichnen. Es treten auch veritable Kriminelle auf, Heiratsbetrüger, Vergewaltiger, Mörder, Ehrenmörder. Manchmal schrammt die Schilderung hart an der Grenze zur Kolportage. Das Gros des Buches besteht aus mehr oder weniger sehr schnörkellos geschriebenen Geschichten über Enttäuschung, Verlust, trotzigem Widerstand und Selbsttäuschung, unterbrochen werden diese Prosastrecken, die längste davon gerade mal zwanzig Seiten, von schillernden Prosaminiaturen, die am ehesten an die Kurzprosa von Robert Walser erinnern. Einfach ist nichts daran, auch da irrlichtert der Vorwort-Text, aber es wird nichts verkompliziert. Für einen Autor, der auch fleißig als Lyriker ist, mag es für viele Leser, die an das Dichter-vs.-Schriftsteller-Klischee glauben, überraschend wirken, dass sich keine Lyrismen in Dreschers Prosa eingeschlichen haben. Störend wirkt an einigen Stellen nur ein ältlicher Erzählton, der dann und wann unnötig Tempo aus der Narration nimmt. Gut gemeint sein mag auch das Glossar, das unbedingt hätte gekürzt werden müssen, nämlich um Begriffe, die zur basalen Allgemeinbildung gehören. Das sind kleine Ärgerlichkeiten, die eben auch anzeigen, dass das Manuskript kein herkömmliches Verlagslektorat durchlaufen hat. Und das Buch muss gegen sein Vorwort, und sei es noch so knapp gehalten, in Schutz genommen werde. Es wirkt in dieser Form blass und harmlos, und kann ohne Verständnisverlust überlesen werden.
»Die Rückkehr meines linken Armes« hat auch nicht zu viel Stoff aufgeladen, eher ist es ein zu wenig, das zuweilen einen Gedanken an die Willkürlichkeit der Auswahl aufkommen lässt. Es kommen vor allem zwei Aspekte der jüngeren und jüngsten Stadtentwicklung und -historie zu kurz.
Zum einen wäre Saarlouis als Hochburg des Rechtsradikalismus anzusprechen gewesen. In den Neunzigern waren es die Republikaner, in den Nullerjahren die NPD, jetzt ist die AfD tonangebend und mit ihrer Polemik gegen Geflohene und alles Abseitige erschreckend erfolgreich. Gerade die Perspektive der Zugewanderten interessiert den Erzähler Drescher schließlich, und es sind schier herzzerreißende migrantische Schicksale, die in diesem Buch nicht ausgeblendet werden, etwa das des indischen Restaurantbesitzers oder den nach Saarlouis verheirateten und dann geschiedenen Frau, die es vom weißen Nil an die Saar verschlagen hat, wo sie nie heimisch wurde.
Über die provinziellen Facetten, die Enge und Muffigkeit, des Saarlouiser Stadtlebens (jenseits von »Bierdreieck« und »Kasemattenkitsch«) hatte schon der bisher einzige auswärtige Stadtschreiber Raimund Petschner, tief in den Neunzigern war’s, einige köstliche Sottisen verfasst, leider ist sein schmaler Band (»Grenzengänger«, hrsg. vom Landkreis Saarlouis, 1993) nur noch antiquarisch zu haben.
Das zweite Desiderat betrifft eine echte Pionierleistung und ein Glanzstück Saarlouiser Bürgergeistes; eine im Jahr 1986 geschlossene Städtepartnerschaft mit der sozialistischen Planstadt Eisenhüttenstadt; es war die erste innerdeutsche Städtepartnerschaft. Kein Wort davon in den »Geschichten einer Gegend«. Ein glattes Versäumnis, gerade für so einen gewitzten und einfühlsamen Autor. Die DDR scheint für viele Autoren, die in westdeutschen Bundesländer sozialisiert wurden, ein langweiliges Kapitel der Geschichte zu sein; die diesbezüglichen Beobachtungen des marxistischen Autors Ronald M. Schernikau – er ließ sich 1989 in die DDR einbürgern und ist 1991 viel zu früh an den Folgen einer HIV-Infektion verstorben – scheinen auch Jahrzehnte nach dem Mauerfall noch zuzutreffen.
Beindruckend hingegen ist der Wille von Andreas Drescher, sich unterschiedlichsten Genres anzunähern. Die klassische Kurzgeschichte steht hier neben Naturschilderungen, Kalendergeschichten, Anekdoten, Satiren, Vignetten. Saarländische Stimmen, die in einem einzigen Buch ein derartiges Repertoire zu entfalten vermögen und durch die Fähigkeit zum Wechsel der Tempi und Tonlagen zusammenhalten können, die, scheint’s, sind äußerst rar gesät.
Gefragt nach den Gründen für seine Entscheidung, sein Manuskript selbst zu verlegen, wurde vom Autor eine Odyssee durch die Untiefen der saarländischen Verlagsszene angedeutet, die einfach nur traurig stimmen kann. Und auch die saarländischen Kulturjournalisten und das Landesfeuilleton hat das Buch nach Erscheinen kaum eines genaueren Blickes gewürdigt. Die Frage, wozu der SR eigentlich einen Kulturfunk braucht, wenn die ungewöhnlichen Seiten der Landesliteratur ausgeblendet werden, sie muss hier gestellt werden. – Dabei wäre es unsachgemäß, Andreas H. Drescher als einen randständigen Autor zu bezeichnen; und in diesem Status eine Erklärung für die Marginalisierung seines Buches zu sehen. Neben einer Publikation in der Edition Saarländisches Künstlerhaus war er mit seinen intermedialen Kunstprojekten Gast des Poesiefestivals Berlin und Preisträger in einem von Hanser ausgeschriebenen Wettbewerb, der digitalen Literatur eine größere Öffentlichkeit verschaffen soll; Drescher ist außerdem als Hörspielerautor und Filmemacher tätig und unterhält sich mit der von ihm kreierten Künstlichen Intelligenz »Maldix«. Ein zweites Multitalent also, von dem Saarlouis und das Saarland, bloß noch keine gebührende Notiz genommen haben. Der Landkreis hat zwar diese Publikation im Rahmen des 200jährigen Jubiläums gefördert. Hoffentlich wird es das nicht gewesen sein. Denn es heißt doch so vollmundig: »Großes entsteht immer im Kleinen«. Wenn es denn gebührend gewürdigt und gefördert wird …
Andreas Drescher selbst sieht in seinem Gespräch mit »Maldix« sein Hauptwerk; vergleichbar in ihrem konsequenten Impetus wäre nur die »Ammengespräche« des Berliner Lyrikers Ulf Stolterfoht, ein Bruchteil davon ist in der von Urs Engeler edierten Reihe roughbooks erschienen. Sein Gespräch mit der K.I. hält Drescher allerdings nicht davon ab, deklassierte und vom Leben durchgeschüttelte Mitmenschen in seiner Heimatstadt Saarlouis mit unsentimentaler Empathie zu zeichnen und der Leserschaft einen intensiven Eindruck zu verschaffen von »seinem« Saarlouis, einem Saarlouis noir. Wer hier die dialektale Färbung (etwa in den Dialogen) vermisst, der wird sich durch die unzähligen dialektischen Kniffe und Abbiegungen des studierten Philosophen Drescher schadlos halten können. »Die Rückkehr meines linken Armes«, und damit der Auftritt des Medienkünstlers Drescher als Erzähler, ist jedenfalls ein wohltuender Kontrapunkt zu den, ja doch, unverzichtbaren, aber eben auch ungeheuer probaten saarlouisbezüglichen Guldeniana.
Im besten Text der Sammlung, der Dorf- und Sonderlingsgeschichte »Der traurige Hans«, spielt Drescher übrigens auf Alfred Guldens kraftvollen Roman »Die Leidinger Hochzeit« an. Man darf, man muss aber nicht zwingend, darin ein oppositionelles Signal erkennen. Es gibt seit Dreschers Prosasammlung mindestens zwei beachtliche Saarlouis-Narrative.
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