Kunterbuntes Porträt in schwarz-weiß
Die Touris nerven mittlerweile so sehr, dass bereits Bücher über das Phänomen geschrieben werden, die Gentrifizierung schreitet gnadenlos voran und dieser verdammte Flughafen ist immer noch nicht fertig. Das internationale Feuilleton zerreißt sich derweil das Maul, indem es eine von Grund auf unsinnige Diskussion über den Hipness-Faktor Berlins forciert. Und Wowereit? Wirft das Handtuch. Arm aber… Na, was? Überteuert, verstopft und belanglos eben. Berlin 2014 ist, so schallt das Gejammer durch die Kieze, eigentlich völlig am Arsch. Von hier weg möchte trotzdem niemand. Andere Sehnsuchtsorte gibt es dann doch nicht.
Dafür gibt es jedoch Sehnsuchtszeiten. Je weiter die vermeintliche Coolness-Krise der Hauptstadt voranrückt, desto eindringlicher werden die Blicke zurück geworfen. Im Falle der Berlin-zentrierten oral history Klang der Familie mit einem dermaßen durchschlagenden Erfolg, dass das Techno-Geschichtsbuch nun ins Englische übersetzt wurde. Erscheinen wird es am 9. November, zum 25. Jubiläum des Mauerfalls also. Da fing alles an, da standen plötzlich die Pforten zu allen Tresoren und Bunkern dieser Stadt offen. Die Party konnte beginnen. Wie sie sich gestaltete und welche Infrastruktur dabei entstand, darüber hat erst vor Kurzem noch Ulrich Gutmair ein gelungenes Buch geschrieben.
Der nicht abreißen wollende Fluss an Publikationen zum Thema zeigt es: Die Rückbesinnung auf ein wildes Berlin als Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten wird zunehmend pathologischer. Fast drängt sich die Frage auf, ob nicht eine gehörige Portion Verklärung im Spiel ist, wird von den guten alten Zeiten geschwärmt. Wenn zum Beispiel der Schriftsteller und notorische Berlin-Flaneur David Wagner in seinem Vorwort zu Berlin Wonderland. Wild Years Revisited, 1990-1996 von einer »Wunscherfüllungszone« schreibt – stimmt das eigentlich? Die gesammelten Archivaufnahmen von Fotografen wie Ben de Biel, Philipp von Recklinghausen, Rolf Zöllner und anderen, die in der ersten, großformatigen Buchpublikation der Fotoagentur bobsairport versammelt sind, zeichnen von den anbrechenden neunziger Jahren zumindest ein kunterbuntes Porträt in schwarz-weiß.
»Es fehlte viel, das machte reich«, schreibt Wagner ebenfalls und tatsächlich zeigen die Aufnahmen, wie eine Gruppe von Menschen ihr Leben zum »Gesamtkunstwerk« machten, wie es in einem der vielen, jeweils auf Deutsch und Englisch den Bildern beigefügten Kommentaren zu lesen ist. Was sowohl Wagner als auch der Fotoband dezent zur Nebensächlichkeit machen: Die Improvisationstalente, Kultur-Visionär_innen, Performance- und Lebenskünstler_innen, denen in Berlin Wonderland ein papierenes Denkmal gesetzt wird, gehörten einer Subkultur an, die sich vor allem auf den Untergrund-Club IM Eimer und das Kunsthaus Tacheles verteilte. Die Berliner Techno-Szene inklusive der ab 1989 stattfindenden Loveparade haben allerhöchstens Gastauftritte und vom regulären Berliner Alltag lassen sich höchstens Restbestände ausmachen. Berlin Wonderland zoomt durch den Zerrspiegel der Nostalgie auf einen eingefriedeten Bereich ein.
Was wiederum nicht bedeuten soll, dass diese Subkultur nicht die kulturelle DNA der Hauptstadt verändert hätte, wie auch Uta Rügner in einem abschließenden Kommentar zu Protokoll gibt. »Es war ein echter Neuanfang für einen sehr großen Teil dieser Stadt, der wichtige Auswirkungen auf die Kultur- und Politikszene in Berlin hatte – und bis heute hat.« Und sei es auch nur in den Köpfen ihrer Bewohner_innen von heute, die sich zurück nach Berlin-Mitte, zurück in die erste Hälfte des vorletzten Jahrzehnts wünschen.
Die latente Nostalgie, in die Berlin Wonderland eingewickelt wird, drängt sich jedoch nicht mit aller Kraft auf, sondern ist lediglich als Indikator einer aktuellen Mentalität zu sehen. Zudem sie dem Genuss dieser fantastischen Fotokunst keineswegs im Weg steht. Den skurrilen Figuren, brüchigen Ruinen und Straßenszenerien, die in den Archiven von insgesamt sieben Fotografen aufgestöbert wurden, wohnt wirklich ein utopisches Leuchten inne. Mitten im Geschehen geschossen, wirken sie heute noch unheimlich lebendig. Sie könnten schon eine gute Portion Sehnsucht wecken.
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