Wer auf Schnecken tritt, hat klebrige Füße
„Der Winter tut den Fischen gut“ von Anna Weidenholzer ist ein großartiger Roman, klar und fesselnd, voll Sprachwitz und unberechenbar bis zuletzt.
Der Tag vergeht, das Licht verbrennt, sagte meine Nachbarin. Fangen wir von hinten an.
Fangen wir also von hinten an – doch wo ist hinten? „Der Winter tut den Fischen gut“ von Anna Weidenholzer ist ein Roman, der rückwärts vorwärts erzählt. Im Großen wird rückwärts erzählt, im Kleinen geht es aber immer vorwärts. Auch läuft die Handlung nicht einfach rückwärts, wie die countdownmäßig absteigenden Kapitelzahlen vermuten lassen. Nein, es geht rückwärts in mehreren Anläufen, manchmal fast wie in Schleifen. Genaue Zeitangaben werden kaum gegeben, doch es gibt andere Faktoren, welche als Orientierungshilfe dienen - beispielsweise Berti, der Hund. Je nachdem, ob er selbst beim Fenster sitzt und den Menschen nachsieht, oder ob seine Urne am Fenster steht, lässt sich wieder eine grobe zeitliche Einordnung vornehmen:
Bertis Urne stand auf dem Fensterbrett, sie wurde regelmäßig abgestaubt, und Herr Nowak wandte ihm den Rücken zu, wenn er aß.
Anna Weidenholzer hat einen Blick für Details und beschreibt äußerst genau:
Es gibt verschiedene Arten von Lichtschaltern. Es gibt einfache, es gibt zweigeteilte, es gibt beige, weiße, braune, schwarze, es gibt solche, die in der Mitte einen Knopf zum Drehen haben, mit dem sich das Licht dimmen lässt. Dimmt man das Licht, wird es dunkler und dunkler, bis es ganz verschwindet.
Durch das genaue Beschreiben der Details und kleinen Gewohnheiten gelingt es Anna Weidenholzer auch den Figuren Charakter und große Lebendigkeit zu geben. Oft sagen die kleinen gedankenlosen Gesten weit mehr aus, als das tatsächlich Gesagte. Menschliche Eigenheiten werden liebevoll in Details, wie dem unbewussten Herumkratzen in Rillen bei Nervosität, offenbart.
Obwohl einerseits so genau beschrieben wird, wird andererseits vieles im Roman gesagt, ohne dass es wirklich ausgesprochen wird. Antworten sind zwischen den Sätzen zu suchen.
Die Schwerelosigkeit der Sprache ist bemerkenswert. Sie ist sehr klar, aber voll Humor und Unerwartetem:
Wenn einem das Haustier im Kühlschrank gefriert, ist das eine unangenehme Situation.
„Der Winter tut den Fischen gut“ ist fragmentiert und einheitlich zugleich. Die Kapitel sind in der Länge sehr unterschiedlich, die kürzesten bestehen nur aus einzelnen zunächst zusammenhanglosen Sätzen. In die Erzählung werden auch Texte aus Ratgebern, Bruchstücke von Liedtexten oder ein Absatz aus einem Kochbuch eingeflochten. Im Ganzen sind die Kapitel aber sehr stark miteinander verwoben. Dadurch, dass die vorerst aus dem Zusammenhang gerissenen Sätze später wieder aufgegriffen werden, ergibt sich ein einheitliches Ganzes. Die Wiederholung ist das stärkste Mittel, welches den Zusammenhang der einzelnen Abschnitte gewährt. Es werden nicht nur einzelne Sätze wiederholt, sondern auch kleine Details und Motive. Viele Kleinigkeiten tauchen immer wieder auf – das selten gegossene Usambaraveilchen im Zimmer des Chefs, der Fleck auf dem Tischtuch der Nachbarin, der schmerzende Händedruck ihres Schwiegervaters und ihres Mannes. Gerade durch die häufige Wiederholung werden diese scheinbar nebensächlichen Details unheimlich aufgeladen und erhalten sehr große Bedeutung.
Ein zentrales Motiv, welches bereits im Titel enthalten ist, sind Fische. Der Titel fällt auch im Roman, in einem Gespräch mit einem Fischhändler:
…der Winter tut den Fischen gut, sie bleiben frisch, nicht wahr. Unsere Fische sind immer frisch, sagt der Fischverkäufer, wir achten auf unsere Ware.
Und Fische tauchen dann immer wieder auf. Bei dem, von ihrem Mann verschmähten, Karpfen des ersten gemeinsamen Weihnachtsfestes ohne die Schwiegereltern. Oder bei dem frischen Fischherz, das Maria von einem Nacktschwimmer angeboten wird.
Der Roman enthält sehr viele kleine wundervolle Sätze, bei denen man gerne verweilt:
Nein, sage ich, ich habe nur meine Stimme verloren, ich weiß nicht, wo sie ist.
Worum geht es aber nun bei „Der Winter tut den Fischen gut.“? – Das ist bei diesem Roman ganz eindeutig die falsche Frage. Was erzählt wird, ist eigentlich nebensächlich, das Besondere an diesem Roman ist, wie erzählt wird. Und worum geht es jetzt in dem Roman? Man hört oft, es handle sich dabei um einen Roman über eine Arbeitslose. Das stimmt. Aber eigentlich geht es ebenso um die Zeit vor dem großen Einschnitt der Kündigung. Man könnte also ebenso sagen, „Der Winter tut den Fischen gut“ sei ein Textilfachverkäuferinnenroman. Im Zentrum steht Maria, eine (arbeitslose) Textilfachverkäuferin. Bei jeder Gelegenheit denkt sie an die Ratschläge ihres (ehemaligen) Chefs, wie man sich richtig zu kleiden und zu verhalten habe.
Maria ist einsam, überdeckt diese Einsamkeit aber dadurch, dass sie gedanklich Begegnungen und Gespräche durchspielt:
Die Stille der fehlenden Blätter ist unerträglich, finden Sie nicht, denkt Maria, als sie unter den kahlen Platanen zum Marktplatz geht.
Häufig überlegt sie sich auch, was sie sagen würde, wenn sie jemand fragen würde:
…würde Maria sagen, würde sie jemand fragen, warum.
Man gewinnt den Eindruck, dass Maria diese Einsamkeit bis zu einem gewissen Grad auch schätzt. So wirkt der Geburtstag, den sie mit sich alleine feiert, weitaus weniger trostlos, als das Weihnachtsfest im Kreise der Familie ihrer Schwester.
Die Träume der Figuren haben oft wenig mit ihrer Lebensrealität zu tun. Walter, der Automechaniker träumt davon Elvis-Imitator zu sein, wird aber bei seinen wenigen Auftritten schnell wieder von der Bühne geholt. Angelika, die Textilfachverkäuferin, erkennt zu spät, dass sie eigentlich keine Kundinnen mag. Sie weiß ganz genau, was sie werden wollen würde, wenn man sie noch einmal fragte:
Zauberassistentin, aber nicht eine, die nur die Kaninchen hält, sondern eine, die in der Kiste liegt, die der Zauberer zersägt. Eine Zauberassistentin ist die Hauptattraktion jeder Vorstellung, ohne Assistentin käme der Zauberer nicht weit, er kann doch keine leeren Kisten zersägen. Die Zauberassistentin hält das Zepter in der Hand. Hätte ich die Wahl, ich wäre Bankkauffrau, Zauberassistentin oder Königin. Und du.
Anna Weidenholzer bemerkt die kleinen Absurditäten des alltäglichen Lebens, welche wohl von den meisten Menschen übersehen werden. Vieles wird erst sehr viel später verständlich. Darin liegt auch ein großes Potential für Komik. Beispielsweise erfährt man sehr bald, dass Otto seinen Tod im Gemüsefach des Kühlschranks fand, wer und was Otto aber eigentlich ist, wird erst nach einiger Zeit aufgeklärt.
„Der Winter tut den Fischen gut“ ist ein wirklich gelungener Roman, den man, nachdem man ihn gerade erst zu Ende gelesen hat, am liebsten gleich wieder von vorne zu lesen beginnen würde.
Wer immer zu Hause bleibt, entkommt der Welt nicht. Der Tag vergeht, das Licht verbrennt. Fangen wir wieder von hinten an.
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