Freiheit
Wie schreibt man eine Besprechung über Gedichte, die man begriffen, aber nicht verstanden hat?
Die folgenden Zeilen werden der Versuch einer Antwort auf diese Frage.
Man müsste natürlich versuchen, während man von dem erzählt, was man verstanden zu haben glaubt, durchscheinen zu lassen, dass es um mehr geht als das, was so ausgedrückt und wiedergegeben werden kann. Und dass es gerade das ist, was die Gedichte so besonders macht. Sie nähern sich dem unaussprechlichen Rest, so sehr, dass man ihn spüren kann. Vielleicht sogar so sehr, dass es gar nicht mehr notwendig ist, einen Ausdruck dafür zu finden. Weil es genügt, dem Gesang der Sirene zu lauschen.
Ausgangspunkt der Gedichte ist die Freiheit, die darin liegt, sich selbst und die andern, das Leben allgemein, nicht ganz zu verstehen. In „Sirene des Duschraums“ finden sich Gedichte, die weniger von der Überwindung als vielmehr von einer souverän-zärtlichen Kraft, die Widersprüche einfach aufzuzeigen, leben. Bei Hagemann klingt das so:
„[...] denn wir sind diejenigen
die jetzt dran sind mit duften und stinken wir leben“
Der Gedichtband beginnt mit dem „Anfängerglück“, mit Gedichten, die von der Erinnerung an die Kindheit erzählen, an eine Zeit, als wir alle noch die Fähigkeit hatten, die Dinge nicht allzu deutlich zu erkennen, als wir unsere Träume und Wünsche noch nicht durchschauten.
die gnade der anfänger
liegt im weiten feld der erfahrungslosigkeit
die grün hinter den ohren sind können
einfach nicht wie pferde galoppieren
wie klempner pfleger bienenzüchterinnen
verlegen verpflegen verzücken
was sie können ist laufen wie ein
pferd das noch nie jemand gesehen hat
sie nennen es vielleicht lomp oder
genauer limplop und sind schon
im vorteil gegenüber unseren langjährigen
behauptungen über pferde
Wer will kann es lebensgeschichtlich deuten, dass nach dem Anfängerglück der Kindheit Gedichte unter der Überschrift „Forschen und Phosphoreszieren“ versammelt sind. Es geht um Übertragungen und Verwandlungen, um die Grenzen der Souveränität. Zuweilen doppelt unerwartet wie in „unerwartet adoptiert“.
Bei „Duelle und Duette“ sind die Gedichte lebensgeschichtlich im Erwachsenenalter angekommen. Es beginnt mit Duetten, die von den wunderbaren Wirkungen der Liebe erzählen, die zuweilen Momente schenkt, in denen wir uns fühlen dürfen
„wie tiere ohne vergangenheit und zukunft“
Es folgen liebevolle Widmungen, aber alles basiert bereits auf der Frage, die das Gedicht „man weiß nie was noch schlimmes kommt oder auch überaus gutes auch in der liebe nicht“ dann stellt:
„aber ist lieben kennen
oder ertragen nicht zu kennen?
ist lieben etwas gründlich wissen
oder einen großen vorschuss
geben auf das ungeahnte
Bereits in Liebe, Jugend und Kindheit, und noch einmal in den letzten Gedichten geht es um die Frage:
„was wird uns zuteil: wie langsam
oder schnell fließt unsere eigene zeit
(rhythmus pulsieren der sonne entgegen)?
dies leben ein rorschachtest in bewegten bildern“
Manchmal sind Fotografien der Ausgangspunkt von Hagemanns Gedichten. Die von Helen Levitt zum Beispiel, oder von Steve McCurry. Dann erzählen die Gedichte die Geschichte des Momentes, der in dem Bild eingefroren ist, überführt diesen Augenblick in Worte, so dass sich der Moment noch einmal abspielt, in dem sie gemacht wurden.
Ob es der besondere Blick ist (wie bei dem Kind im Gedicht „kleines spektakel für helen levitt“), oder ein besonderer Mensch, ein einzigartiger Moment, Hagemann fängt dieses Besondere nicht ein, sie bemerkt es und lässt ihm in ihren Gedichten die Freiheit, die es ausmacht. Sie schreibt nichts nieder, grenzt nichts ein. Sie zeigt auf und führt vielleicht in Versuchung, es auch einmal mit dieser Art von Blick zu versuchen.
Ulrich Koch hat über ein Gedicht von Bernd Jentzsch geschrieben: „Dieses Gedicht hat, wie alle großen Gedichte, seinen Lesern eines voraus: Seine Freiheit“. Diese Aussage passt hervorragend auf nahezu jedes von Hagemanns Gedichten. Sie haben eine unerhörte Freiheit. Eine Freiheit, die nicht zuletzt in der Akzeptanz der Widersprüche besteht:
„wie alle bin ich
eine gefangene dieser welt aber
auf immer freiere art“
Das zeichnet Hagemanns Gedichte aus.
Auf jeden Fall aber erfüllen die Gedichte des Bandes den Satz des titelgebenden Gedichtes „sirene des duschraums“, der behauptet:
„ich sang mit unbedingter hingabe“
Fixpoetry 2014
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