Georgica
Beichte Nr.1
Da war ein Tag, als alles aufging –
die Türen, die Hosenknöpfe
und die Rechenaufgaben,
alle Ergebnisse und Antworten
lagen bereits beim Erwachen vor.
Ich irre mich nicht,
an diesem Tag erwachten alle:
der Kaffeesatz am Grund der Tasse
der Klavierlehrerin,
das Kampfschwert des Urgroßvaters,
die Kellerratte, die Lust des Säufers auf die Kellnerin,
das Rabennest im Fürstengarten,
die Platanen am Straßenrand, und die Straße.
[…]
So beginnt ein Gedicht aus dem Band „Wir, die Apfelbäume“ der georgischen Lyrikerin Bela Chekurishvili. Er ist kürzlich als Teil der „Reihe P“ erschienen, einer „Neuen Bibliothek der Modernen Poesie“ mit den „weltweit wichtigsten Stimmen der zeitgenössischen Lyrik“ (Umschlag), im Verlag Das Wunderhorn herausgegeben von Joachim Sartorius, Hans Thill und Ernest Wichner. „Wir, die Apfelbäume“ ist übersetzt und mit einer Nachbemerkung versehen worden von Norbert Hummelt. Das Wort „übersetzt“ stimmt nicht wirklich, im Untertitel heißt es „Aus dem Georgischen von Norbert Hummelt“ und, wie zitiert, auf dem Buchcover heißt es vollständig „…die wichtigsten Stimmen der zeitgenössischen Lyrik dem deutschen Leser in beispielhaften Nachdichtungen präsentiert“. Das ist ein interessantes Territorium. Analog der Reihe Versschmuggel wird also eine Technik angewandt, die sich in zwei Übertragungsstufen der Textarbeit widmet: Zunächst wird eine Interlinearübersetzung bereitgestellt, hier von Tengiz Khachapuridze und Lika Kevlishvili, und darauf aufbauend entsteht die „Nachdichtung“. Es hat mit einer herkömmlichen bilingualen Übersetzerarbeit kaum noch etwas zu tun, und böse ins Futur gesprochen, kann jeder daherkommen mit einer Interlinearmaschine (google translator etc.), sich mit ihr ein Vokabel- und Grammatikbeet beschaffen und loslegen, aus allen Weltsprachen Nachdichtungen vorzunehmen. Doch das ist wohlgemerkt an sich nichts Schlechtes oder Verwerfliches. Im Gegenteil, es ist die Zukunft, es ist zeitgemäß, es ist das Kitten von Babel vielleicht … allerdings ist es trotzdem nicht das, was eine demzufolge traditionell zu nennende Übersetzung zu leisten im Stande war und ist. Nämlich in Kenntnis von beiden Sprachen den besonderen Modus einer getroffenen Wortauswahl im zu übertragenden Textausgangsmaterial zu verstehen, freizulegen und zu reproduzieren oder in schöpferischer Weise nachzuempfinden. Handelt es sich eher um einen altertümlichen Sprachgebrauch, ist es hochgestochenes Sprechen, ist es Kunstsprache, ist es kolloquial, handelt es sich um feststehende Redewendungen? Diese Detaillierungen und Färbungen der Ausgangssprache laufen Gefahr, bei jenem zweistufigen Übertragungs- und Nachdichtungsverfahren ungenau und vor allem auch unnachvollziehbar zu werden. Bei „Wir, die Apfelbäume“ fehlt der Abdruck des Originals, das sicherlich nur wenigen deutschsprachigen Lesern verständlich, geschweige denn in georgischer Schrift lesbar sein wird, und dennoch: Wenigstens ein Ausschnitt oder beispielhaftes Gedicht könnte, in seiner originalen Notation abgedruckt, alleine anhand des visuellen Schlüssels, das Gefühl nehmen, hier sei in der Nachdichtung einfach alles möglich. Denn so interessant die Gedichtübertragungen auch sind, sie wirken etwas uneinheitlich und bisweilen Misstrauen erregend.
Bela Chekurishvili (Norbert Hummelt) spricht in verschiedenen Ebenen und Ansätzen, obwohl jedes Gedicht ein lyrisches Ich besitzt, das etwas über seine Welt und Sicht und Gefühle zu sagen hat, wechselt die Sprache und ihre Bilder von eher konservativen Assoziationen und Konstellationen (Familie, Natur, Stadt) in unauffälliger Sprache, teilweise überraschend in Reimen, zu plötzlich sehr direkten Wort(er)findungen, und man kann nicht herausfinden, welchen Typ Lyrik Bela Chekurishvili eigentlich vorträgt. Wie traditionell ist das Ganze, gibt es sprachkritische Ansätze, was ist die visuelle Dimension der Lyrik, der Rhythmik, der Reime? Die Antwort ist dem Leser vorenthalten, und alles Genannte wird mehr oder weniger angeschnitten, ist vorhanden, verschwindet aber auch wieder. Der Fluss der Gedichte ist ungegliedert und Strukturverwandtes wird nicht gruppiert, sondern es werden stattdessen einfach 40 Gedichte zäsurlos hintereinander weg präsentiert. Vielleicht ist es aber genau die Absicht, zu zeigen, dass hier eine interessante Spannung vorherrscht – in der Lyrik von Chekurishvili wie möglicherweise auch in der gesamten georgischen Szene. Dass hier nämlich Tradition mit Aufbruch kämpft und Vor- und Nachhut beider Lager miteinander in derselben Zeile verbandelt sind. Das sagt exakt auch Hummelts Nachwort:
Die Gedichte sind getragen von einem Aufbegehren gegen die reiche Formentradition der georgischen Dichtung und doch zugleich von ihr gespeist. Aber ob sie nun zum prosanahen, skeptischen Blocksatz tendieren oder im Urvertrauen auf den Reim zu tanzen beginnen – immer sind diese Gedichte elektrisch geladen.
Doch wo hier der Blocksatz sein soll, bei einer durchgehend im Flattersatz gedruckten Nachdichtung, bleibt genauso offen wie die eingangs gestellte Frage nach einer Verortung des Ausgangsmaterials von „Wir, die Apfelbäume“ in seiner Gesamtheit. Die Nachdichtung jedenfalls liest sich durchweg gut, sie besitzt Sprachfertigkeit und Chekurishvilis Bilder setzen sich in eigenwilligem Tempo nieder. Die Lyrik hat etwas Exotisches–„Orientalisches“ und die Themen, insbesondere die vehement durchscheinende Auseinandersetzung mit gesellschaftlich-traditionellen Unterdrückungsmitteln wie Patriarchat und Orthodoxie, machen den Band inhaltlich kohärent, ernsthaft und relevant. Schade, dass das Original trotz all seiner Fremdheit in Notation und Sprache gänzlich ausgespart bleibt. Es scheint – das aber bloß spekuliert – doch sehr interessant.
Für meinen Freund, den Leutnant
„Leutnant, hast du eine Zigarette?“
Ruf aus dem Fenster der Psychiatrie
In diesen Garten gingen wir mal, um eine zu rauchen
und über die alten Zeiten zu reden,
lange nach unserer Studentenzeit.
Wir rauchten und bemühten uns,
dem zu folgen, was der andere erzählte.
Gut, dass wir Zigaretten hatten, und Geschichten auch,
manche gemeinsam, andere hatte jeder für sich.
[…]
Ohne Antwort
Als hätte ich meinen Schirm aufgespannt
und schritte beherzt dem Regen entgegen…
So in der Art hat’s angefangen.
Wir standen niemals beieinander,
wir lagen auch nicht beieinander,
wir haben nie ein Haus geteilt
mit Wand und Zaun zur Außenseite.
Es glich eher einem Sitzen bei Tisch,
wenn alle ihre Blicke senken
und auf ihre Finger schauen.
Und weil es keine Brieftauben mehr gibt
Und selbst die Briefkästen bei uns verschwunden sind,
haben wir geredet.
Um die Lücke zwischen Tag und Nacht zu füllen,
die Strecke zwischen den Städten zu mindern.
Um der Vergangenheit zu gedenken,
unsere Einsamkeit zu verschenken.
Als hätten wir eine Schranktür geöffnet
oder die alten Koffer verwechselt,
als müssten wir auf der Stelle entscheiden,
was anzuziehen, was wegzuschmeißen…
Aber Worte haben leider diese Eigenart,
sie kommen wieder,
und zwar ganz speziell, wenn sie geladen sind, scharf und schnell.
Als hätten tausend Arme
mit Tennisschlägern auf Bälle gedroschen,
so flogen sie mir um die Ohren,
so knallten sie mir um die Füße.
So titschten sie rum und schlugen ein,
ich war schon ganz grün an der Stirn und am Bein.
So musste ich Rede und Antwort stehen,
auf jedes Lachen, jedes Seufzen, jede Widerrede
wollten sie eine Entgegnung haben.
Sogar solche, die im Stühleknarren, im Papiergeraschel
geblieben waren, forderten eine Antwort ein!
Und weiter?
Wie, was weiter?
Willst du jetzt auch noch eine Antwort von mir?
Ich dachte, ich hätte den Schirm aufgespannt
und schritte beherzt dem Regen entgegen…
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