Ineinandergeschrieben
Manchmal tauchen beim Besprechen von Büchern Hindernisse auf, die das zügige Arbeiten verhindern. Im Fall von Birgit Kreipes neustem Band „Soma” waren es die drei Gedichte, die den zweiten Zyklus der Sammlung bilden („in der hauptstadt ist dieser strand unbekannt”), und von denen ich lange nicht losgekommen bin. Es sind vordergründig sehr schöne, rhythmisch in den Bann ziehende, Naturbeschreibungen, von denen man sich erst losreißen will, wenn man jedes einzelne Stückchen auf den „grauen sternkarten der muscheln” mindestens einmal umgedreht hat.
3
das land teilen sich drei winde, lern ich im traum
einer vertäute die inseln am himmel.
einer verschob schafherden, tanker und geld.
der stärkste deckte klöster ab, zerstörte kirchenund die fischer mit roten segeln ertranken.
da muss noch ein wind sein, rufe ich
der verfolgt uns, rüttelt an wänden und schlössern!
du aber schläfst, gelöst, als sei nach dem tir fo thonnnoch ein land unter den wellen, das leuchtet
eine zuflucht, über die du, ohne zu suchen, verfügst
wenn abends das meer in den sund zurückströmtdie winde verdrängt, ihr flüchtiges muster aus algen
sterbenden krebsen und sand überschreibt
mit den grauen sternkarten der muscheln.
Aber es ist mehr als nur Kreipes Meisterschaft im Setzen von Wörtern und Rhythmen, die die Gedichte in „Soma” so faszinierend macht. Denn wie hier (und in vielen anderen der Texte) auf der formalen Ebene ein Gedicht in freien Versen und ein Sonett ineinandergeschrieben werden, finden auch noch andere Ineinanderschreibungen statt, von Gegenwart, Geschichte und Mythologie, von Beobachtenden und Beobachteten, Traum und Wirklichkeit, Idylle und Schrecken...
So auch im ersten Zyklus („nachts rücken die scheunen zusammen, werden zahm”), in dem wir uns auf den „grübelhalden des kinds” finden, möglicherweise bei der allmählichen Rückkehr aus einem Traum, in einem Brachland, das einmal Landschaft gewesen sein mag, Wohnstätte oder reine Vorstellung.
VII
landschaft mit angst. ein tier, für wiesel
zu groß, gesicht wie sprengkörper
wartet kerzengerade am bach. verschwindet.
oder lacht. oder drückt auf den knopf.warum so allein? das licht sickert
durch eine unordnung, halme und kalk.
wind hängt den mond in wachsamen kronen auf.
am bachgrund: die starren mondfischekies. kies. von überall dringen jetzt
riesige tiere ein. ich laufe zurück, was soll ich hier?
will erwachsen sein. was noch kommt: birkendem schnee verwandt. dann zäune
sonnenuhren. die grübelhalden des kinds.
das gras wächst schon in den himmel.
Wir können die Zyklen des Bandes als einzelne, in sich geschlossene Textgruppen lesen, doch vielversprechender ist es — wiederkehrende Motive weisen darauf hin —, sie als eine Art fortlaufende Erzählung zu sehen. „kinderheim” kann dann die Fortsetzung des ersten Zyklus sein, auch hier gibt wieder ein Ineinanderschreiben von Traum und Erwachen, Erinnerung und zeit- wie trost- und hoffnungsloser Wirklichkeit des Kindseins. Dabei gelingt es Kreipe, der alten Metapher vom Menschen als Spielfigur („ein bauer, rundschädel, mücken im hölzernen herzen / stolpert auf schwarz-weißen feldern, von allen figuren gehetzt”) neues Leben zu geben, indem sie uns diese Figur aus der eigenen Sicht, der des Beobachters und der des Davongekommenen vor Augen führt. Davongekommen wie Aschenputtel, deren Stiefel noch auf der Treppe kleben in der „runaway version” des folgenden Zyklus („pass auf, kleine mondsüchtige”), drei Märchenfortschreibungen, die zugleich drei Versuche über Depression sind. Das letzte dieser drei:
vertrauen, dieses nachtlicht
kaufte ich von einer sehr alten dame.
sie hob die brauen: was, kein schlaf?
dein herz kommt wohl von schlechten vorbesitzern!
stimmt, dauernd wache ich auf und frage:
und die luft? wie kommen wir dazu
uns an ihr festzuhalten?
Es ist dann nur folgerichtig, wenn im vorletzten Zyklus („über die alpen”) der schmerzhafte Versuch unternommen wird, die Schichten mit archäologischer Präzision auseinanderzunehmen („wären die alpen doch wolken geblieben. / schwundstufen von träumen, kinderspiel. weit weg).
...
ja, es soll immer noch hoffnung sein
schimmer auf wasser, dein spiegelbild.
unter der kirche ist noch eine kircheund darunter ein knochenweißer tempel
und darunter ein haus, alles vergessen
und darunter die hölle. oder ein brunnen.
Es genügt nicht, Kreipes Gedichte vielschichtig zu nennen, denn die Texte dieses Bandes zeigen andere Wirklichkeiten hinter (oder unter) der Realität, dem Traum oder dem Erinnern nicht nur auf, sie schreiben diese Schichten noch in faszinierend kunstvoller Weise (und zudem einer klaren und gänzlich unprätentiösen Sprache) so ineinander, dass etwas ganz Neues daraus entsteht. Man wird sie häufiger lesen wollen.
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