Der fremde Blick
Im mittlerweile verdienstvollen Greifswalder Freiraum-Verlag erscheint seit letztem Herbst eine Reihe mit neuer polnischer Literatur. Herausgegeben wird diese Reihe von der Autorin und Übersetzerin Paulina Schulz. Gerade jetzt, da in Polen und auch in Ungarn merkwürdig nationalistische Regierungen am Ruder sind, ist es wichtig, darauf zu verweisen, dass diese nicht die Länder in ihrer Gesamtheit repräsentieren. Solche Reihen tragen durchaus dazu bei, ein Europa jenseits staatlicher Ignoranz zu konstituieren. Und die Lektüre macht auch noch Spass.
Als erster Band ist "Ossis und andere Leute" von Brygida Helbig erschienen. Es handelt sich um eine Sammlung von Kurzgeschichten. Helbig wurde in Stettin geboren und siedelte 1983 nach Deutschland über. Sie ist Literaturwissenschaftlerin und durchlebte die übliche Karriere im deutschen und tschechischen akademischen Betrieb. Das heißt, nach Studium und Promotion verschlug es sie an verschiedene Universitäten, und sie forschte und unterrichtete unter prekären Lebensbedingungen. Dies alles - die gewissermaßen doppelte Herkunft und das akademische Vagabundieren in Deutschland und Prag - bildet den Hintergrund und zuweilen den Stoff ihrer Erzählungen.
Vielleicht ist es gerade eben dieses Unbehauste, Unstete, das die Kraft und Würze der Arbeiten ausmacht: Gewissermaßen im Vorübergehen entwickelt sie die Fähigkeit zur punktgenauen Beobachtung und einen Sinn für dramatische Momente, also genau jene Art von Fertigkeiten, die zur Short Story führen können, weil sie durch Genauigkeit das Fremde, Paradoxe herausstellen.
Wiederkehrender Protagonist einiger Geschichten ist der Zwickauer Klaus, arbeitslos und ... die einen würden sagen "Lebenskünstler", die anderen "Versager". Wahrscheinlich sind beide Bezeichnungen falsch, und an Klaus wird sichtbar, was eine sich verändernde Umgebung mit einem Menschen anstellt, der sich in einem vollkommen anderen Tempo verändert, und wie einer letztlich scheitert, der seine Vorurteile ungeprüft läßt. So scheitert eine gemeinsame Pragreise mit einem weiteren Protagonisten namens Rainer, der vorgibt, sich in Prag auszukennen, wie auch dessen verschiedene Beziehungen scheitern.
Ich bin im westlichen Sachsen aufgewachsen und kenne die Selbstbilder der Menschen in dieser Gegend ganz gut, und für mich war die Lektüre ein Fest. Es war herrlich mitzuverfolgen, wie Helbig sie zerlegte, einfach durch ihren fremden Blick, der sich an keiner Stelle als klüger ausgibt.
Eine Chance
Als Rainer eines Tages Klaus nahelegte, dass in seiner Firma ein Ingenieur gesucht werde, erwiderte Klaus, der nichts anderes als Maschinenbauingenieur war: „Gut, ich frage mal herum, vielleicht hat ein Bekannter Interesse.“
Diese Geschichte ist hier komplett zitiert, zum einen, weil sie die kürzeste des Buches ist, zum anderen aber auch, weil in ihr eine Struktur aufscheint, die nicht nur die Short Story als Gattung auszeichnet, sondern auch ihre Verankerung in den Verwerfungen der Lebenswelt demonstriert. Es sind jene Paradoxien, auf denen der Humor basiert, welcher der Short Story innewohnt.
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