Alte Geschichte
Sommer, Sonne, Sand und Meer und 15 Jahre alt. Man kann sich vorstellen, was nun kommt. Erste Liebe, rauschhafte Momente, ein bisschen viel Wein, ein bisschen viel Whisky, Wahn, Übergriffe, Vergewaltigung, Enttäuschung, das Aneinanderstoßen von Leben und Tod und eine übermächtige Sehnsucht nach etwas, was, weiß man nicht ganz genau.
Paulina Schulz hat eine Erzählung geschrieben, die diese Melange zum Substrat hat. Doch „Das Eiland“ ist kein Jugendroman, leider hat es eine Rahmenhandlung.
Die veraltete Bezeichnung Eiland für Insel hat natürlich eine Bedeutung, wie alles in dieser Erzählung von Bedeutung überzuquellen scheint.
John hat mit seinen Eltern auf dem nicht näher bezeichneten Eiland sein Ferienquartier. Der Fünfzehnjährige verbringt die Zeit allein mit seiner Kamera, die ihm sein Vater geschenkt hat. Bis er dem Zwillingspaar Milan und Milena begegnet: „Sie kamen über den Strand auf ihn zu, eine Erscheinung aus Licht, schwebten über dem Sand, kaum menschlich.“
Die Zwillinge sind zwei Jahre älter als er und genügen sich eigentlich selbst. Zunächst verguckt sich John in die knabenhafte Milena, später aber auch in den wilden und unberechenbaren Milan. Die drei verbringen die Zeit miteinander, liegen im Sand und trinken zu viel Rotwein am helllichten Tag. Milena erzählt Familiengeschichten. Ihre Vorfahren waren so etwas wie die Herren des Eilandes, alles gehörte ihnen. Besser, sie nahmen es sich. Stellten das Licht des Leuchtturms aus, so dass die Schiffe an den Klippen der Insel zerschellten und sie trugen die Beute heim. So auch einmal eine junge schöne Frau, die der Ahnherr ohne deren Einverständnis ehelichte. Sie verließ ihn in der Hochzeitsnacht und stürzte sich von den Klippen. Das Gespenst des Ahnherrn irrt in bestimmten Nächten auf der Insel. Milena erzählt diese Geschichte dem Jungen, den alles, was zur Aura der Zwillinge gehört, fasziniert. Er spürt nicht, dass er ein Spielzeug ist. Tag für Tag trinkt er mit Milan und Milena, am Strand, im Haus der Vorfahren, in dem sie allein wohnen. John fühlt sich von beiden erotisch angezogen und es kommt nach knapp hundert Seiten, was der Leser von der ersten Begegnung an ahnt, John wird von den Zwillingen „entjungfert“.
Danach ist Milan verschwunden, Milena plötzlich sehr kühl. Von Sehnsucht getrieben macht John sich auf die Suche.
Paulina Schulz lässt John die Geschichte dieses Sommers nach mehreren Jahrzehnten erzählen. Dazwischen sind - typografisch abgehoben - Beschreibungen von Fotos geschoben: Ein Bild vom schlafenden Vater, den John sehr bewundert. Eines von den Zwillingen, wie sie auf ihn zugehen, eines von den drei Jugendlichen. Und eines von drei Grabsteinen, alles sehr bedeutungsvoll, besonders die Grabsteine, denn am Ende der Erzählung sind mehrere Protagonisten tot.
An einigen Stellen wechselt die Perspektive vom Ich- zum auktorialen Erzähler. Wäre es nur an der Stelle, als John zu ertrinken droht und von Milan gerettet wird, wäre es möglicherweise nachvollziehbar gewesen. Aber die weiteren Wechsel erscheinen unlogisch. Zum Zeitpunkt, als John die Geschichte erzählt, ist er ein erfolgreicher Modefotograf, der um die Welt jettet, der gefühllos mit seinen Models in die Kiste hopst. Der dem Mann seines Lebens begegnet, aber vor ihm flieht, um sich zu retten. In der Erzählung des Sommers soll nach den Gründen gefahndet werden, warum John so geworden ist, wie er ist. Das wird umgekehrt immer wieder angedeutet: Der Ich-Erzähler John sagt (über sich): „Ich mache John keine Vorwürfe, er war ein Junge, nur ein Junge.“ Oder: „Der Tag … der erste Tag einer Phase, die über mein weiteres Leben entschied.“ Der Leser ist gewarnt: es wird viel passieren!
Was passiert, das John aus der Bahn wirft: John findet seinen Vater und Milan gemeinsam im Bett. Er macht ein Foto. Dann verschwinden beide aus seinem Leben, er wird gefühllos, ein Getriebener, in Gespenst, wie der Ahnherr, dessen Braut sich von den Klippen stürzte. Der Erzählung hätte es gutgetan, wenn man auf diese Erklärung verzichtet und sich auf die atmosphärische Beschreibung der Dreierbeziehung konzentriert hätte. Durchaus auch mit dem Vater als viertem in der Runde. Eine Passage, wo der Vater zusammenzuckt, als der Name Milan fällt, bleibt völlig folgenlos und von dem sonst so sensiblen John unkommentiert, das heißt, Paulina Schulz verschenkt an dieser Stelle ein entscheidendes Puzzleteil. Die drohenden Kommentare aus der Zukunft „Vielleicht wusste ich damals schon zu viel“ und vor allem die Erklärung, das verfehlte Leben sei auf diesen einzigen Moment des doppelten Vertrauensbruchs zurückzuführen, scheinen aufgesetzt und werfen auf die „Spiele“ des Sommers ein Schwarz-Weiß-Licht: Die bösen Zwillinge und der arme, unschuldige John, der zerbricht.
Manchem Leser werden Jean Cocteaus „Kinder der Nacht“ einfallen. Ein Geschwisterpaar, das in der Wohnung ohne Eltern seltsame Spiele, Rituale teils unter Drogeneinfluss zelebrieren. Die fast erdrückende Atmosphäre, das Gefühl, an etwas Verbotenem teilzuhaben, das teils auch unangenehm ist - Cocteau gelingt eine meisterhafte Melange - ohne jede Psychologisierung.
Den intellektuellen Zwillingen Paulina Schulz´, die allerhand Literatur zitieren, ist diese Parallele leider entgangen. Die Faszination Dreierbeziehung, das Gefühl in der Inszenierung der Zwillinge ein willenloses Requisit zu sein, hat Paulina Schulz angelegt, jedoch mit der Erzählintension, aufzudecken, was ihren Helden kaputt gemacht hat, unterwandert.
Paulina Schulz ‘Erzählung ist in einem kleinen Verlag erschienen, der neu in der Szene ist. Der freiraum-verlag hat seinen Sitz in Greifswald. Einer der Autoren ist Uwe Saeger, Bachmann-Preisträger 1987, der bereits zwei Bücher dort veröffentlicht hat. Schwerpunkt des Verlages ist Gegenwartsliteratur, sowie Lyrik: Von Silke Peters und Odile Endres ist je ein Band erschienen.
Paulina Schulz ist in Polen geboren und lebt seit 1989 in Deutschland. Sie hat am Literaturinstitut Leipzig das Fach Übersetzen studiert und mehrere Bücher aus dem Polnischen übersetzt. Bisher erschienen zwei Lyrikbände von ihr.
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