Die Poesie der alltäglichen Erscheinungen
Mehr als neunzig Gedichte des amerikanischen Autors Charles Simic aus den Jahren 1962 – 2015 versammelt der Hanser Verlag in dem Lyrikband Picknick bei Nacht. Simic, 1938 in Belgrad geboren, lernte erst mit sechzehn Jahren Englisch. Seit den 1970er Jahren veröffentlichte er zahlreiche Gedichtbände, die unter anderem mit dem Pulitzer-Preis und der Frost Medal ausgezeichnet wurden.
Auf dem Umschlag des Lyrikbandes ist unten ein Paar Schuhe abgebildet und somit optisch das Augenmerk auf Meine Schuhe, eines der frühen und oft zitieren Gedichte des Autors gelenkt:
Mit eurer stummen Geduld seid ihr
Das einzig wahre Abbild meiner selbst.
Schuhe als Selbstporträt; Unkraut, das dem Menschen etwas zu sagen hat; Vögel als Trost. Charles Simic steht in der Tradition amerikanischer Lyriker wie James Tate, die alltägliche Erscheinungen in Poesie verwandeln und dadurch das scheinbar Unscheinbare sprachlich umkreisen und seine Bedeutung für den Menschen betonen.
Weil alles seine eigene Geschichte schreibt,
egal wie bescheiden,
Ist die Welt ein großes dickes Buch,
Je nach Tageszeit
Öffnet sich eine andere Seite
sagt er in dem Gedicht Geschichten, um in den nächsten Strophen von der Geschichte des Sonnenstrahls zu sprechen, der wiederum einen Knopf der Geliebten findet. Dieser Blick auf die kleinen Dinge findet man in vielen der Gedichte.
Pflanzen wie Seegurken und kleine Tiere wie Schnecken, alles kann Thema eines Gedichtes sein. Simic schreibt ironisch über den effizienten Herr[n] Wurm, der sorgfältig Buch über sein Zersetzungsprogramm führt:
So konntest du unter einem Blatt Deckung suchen
Und deinen Terminkalender durchgehen
Andere Gedichte sind in einer lakonischen Sprache verfasst, die mit poetischen Bildern unterlegt ist.
Ein Spätsommerabend
Wenn der Wind vom See
Die Erinnerungen der Bäume weckt
Und ihre dunklen Blätter
Im schwindenden Tageslicht
Bersten vor überquellender Zärtlichkeit –
Oder könnte es Schmerz sein?
Rund um den Picknicktisch
Verstummen wir nun alle,
Unsicher, ob wir bei unseren Gläsern bleiben
Oder heimwärts streben sollen.
In Eine Wand gewinnt diese erst durch eine Fliege an Bedeutung. Hier erinnert Simic an Brechts Der Rauch.
Die Fliege, der ich zusah,
Die Details ihrer Flügel
Schimmernd wie Türkise.
Ihre Füße folgen zu meinem Vergnügen
Einem winzigen Riss –
Eine Ewigkeit
Um dieses schlichte Ereignis.
Die meisten Gedichte haben, wie überhaupt vieles in Simics Gesamtwerk, einen autobiografischen Hintergrund. Kindheit und Jugend waren erst vom zweiten Weltkrieg und dann vom Kalten Krieg bestimmt. Simics Vater floh 1944 aus dem von Deutschen besetzten Jugoslawien nach Italien, wo er wieder ins Gefängnis kam. Charles selbst konnte 1953 mit seiner Mutter Helen Jugoslawien verlassen und gelangte 1954 über Paris in die USA. Dort wurde die Familie nach zehn Jahren wiedervereint.
Wir spielten im Schatten
von Mördern am Werk
schreibt Simic in dem Gedicht Unser Spielhaus, und in Zwei Hunde erinnert ihn die Geschichte einer alten Frau an
die Deutschen, die
1944 an unserem Haus vorbeimarschierten.
Viele Zeilen und Themen dieser mehr als neunzig Gedichte möchte man anführen und noch lieber zitieren. Bei der ersten Begegnung mit dem Buch habe ich mir, ganz unprofessionell, oft "sehr schön" an die Seite geschrieben. Da gibt es längere und kürzere Gedichte, in denen Simic mit ironischem Unterton und in einer Mischung der Sprachebenen Szenen aneinanderreiht oder überraschende Zusammenhänge herstellt. Beispielsweise in den von Filmen beeinflussten Stadtgedichten wie Hotel Insomnia, das nicht nur durch seinen Titel an Stephen King erinnert.
Um fünf Uhr morgens oben das Geräusch nackter Füße
Die Wahrsagerin aus dem »Gypsie«.
Von Schlaflosigkeit ist öfter die Rede. In einem seiner Selbstporträts schreibt Simic:
Ich bin der ungekrönte König der Schlaflosen,
Der seine Geister noch mit dem Schwert bekämpft.
Das soeben Gesagte wird oft genug gleich wieder in Frage gestellt, in diesem Gedicht wie in anderen.Hier heißt es, Simic sei
Mürrischer Bühnenassistent zweier
Bekannter, unsichtbarer Zaubermeister,
einer heißt Gott, der andere Teufel, vorausgesetzt
Selbstverständlich, ich bin der, als der ich mich darstelle.
Nachdem Simic an der New York University studiert hat, war er bis zu seiner Emeritierung Professor für Amerikanische Literatur und kreatives Schreiben an der University of New Hampshire. Daher ist es nicht verwunderlich, dass er sich in seiner Lyrik auch mit dem Schreiben selbst auseinandersetzt, wobei er die Schwierigkeit beziehungsweise die Unmöglichkeit thematisiert, die richtigen Worte zu finden: Manches sei zu wunderbar oder zu erschreckend,
Um ihm rasch einen Namen zu geben.
In dem Gedicht Weitermachen wie eine Krähe fragt sich das Lyrische Ich, ob es überhaupt befugt sei,
für diese Bäume
Ohne Blätter zu sprechen.
Das schönste Gedicht zu diesem Thema steht als vorletztes am Ende des Gedichtbandes:
Ach, sagte ich
Mein Thema ist die Seele,
Schwierig über sie zu sprechen,
Denn sie ist unsichtbar,
Schweigsam und oft abwesend.Selbst wenn sie sich
In den Augen eines Kindes
Oder eines heimatlosen Hundes zeigt,
Fehlen mir die Worte.
Der Gedichtband ist in elf Kapitel mit jeweils unterschiedlich vielen Gedichten eingeteilt. Ich finde es etwas bedauerlich, dass es keine genaueren Angaben zu den einzelnen Kapiteln gibt, etwa, was ihre jeweilige Entstehungszeit betrifft. Das mit 28 Gedichten größte Kapitel enthält Frühe Gedichte, wobei dort in Streng bukolisch von einem Milleniumspicknick gesprochen wird, der Text also nicht zu den frühen gehören kann. Explizit als Neue Gedichte werden nur neun angeführt. Über die anderen Kapitel und Texte erfährt man nichts.
Aber vielleicht wollen Verlag und Autor, dass der Leser selbst nachvollzieht, was Charles Simic 2005 in einem Interview in der Paris Review gesagt hat:
In the early poems, the idea was to make poems entirely of images, not caring too much about sound, using the simplest possible vocabulary. I think my poems eventually got to be more careful about language and music. There are more autobiographical elements, more narratives.
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