Masturbatorische Passion und abstrakte Romantik.
Es ist eine ganz einfache Geschichte, die eines Fast-Ehebruchs, wie sie ständig passiert: Chris Kraus, eine 39-jährige experimentelle Filmemacherin, und ihr Mann Sylvère Lotringer, 56-jähriger Literaturprofessor in New York, aus Frankreich stammender Holcaust-Überlebender, gehen mit dem englischen Kulturwissenschaftler Dick in einer Sushi-Bar in Pasadena essen. Die beiden Männer reden über postmoderne Theorien, und Chris spielt die Nichtintellektuelle, erwidert Dicks Blicke, die er ihr zuwirft.
Da ein heftiger Schneefall angekündigt wird, bietet Dick ihnen an, bei ihm zu übernachten. Sie träumt die ganze Nacht von ihm. Am nächsten Morgen aber ist er verschwunden. Und sie ist hoffnungslos in ihn verliebt. Sie denkt nur noch an ihn, sie will ihn unbedingt wiedersehen. Und da sie mit Sylvère alles teilt (außer Sex), bezieht sie ihn in ihr Spiel mit ein. Sie schreibt eine Kurzgeschichte namens "Abstrakte Romantik", schreibt ihm Briefe und Faxe, die sie nicht abschickt. Und auch er schreibt und denkt mit und schickt nicht ab - eine wunderbar ironische Folie-à-trois. Nur dass Dick davon überhaupt nichts weiß. Selbst als er schließlich kurz anruft und sein morgendliches Verschwinden damit erklärt, dass er nicht schlafen konnte und losgefahren sei, um sich ein paar Eier mit Speck zu holen, gesteht sie ihm ihre Liebe nicht, sondern denkt und plant und schreibt lieber weiter.
Denn "I love Dick", der Roman der amerikanischen Filmemacherin und Autorin Chris Kraus, der vor zwanzig Jahren im Verlag Semiotext(e) von Sylvère Lotringer erschienen ist, ist nicht nur ein seltsamer Briefroman über die Liebe, sondern auch einer über das Schreiben von Literatur: Seitenlang schreiben sie Briefe an Dick, vor allem Chris, die ihm ihr ganzes Leben ausbreitet, ihre Gefühle, Gedanken, ihre intimsten Geheimnisse. Natürlich kommt nie eine Antwort von Dick, denn er weiß ja nichts davon, zunächst. Einmal ruft Sylvère ihn noch einmal an, um ihm von einem Videoprojekt zu erzählen, an dem sie ihn beteiligen wollen. Ein Vorwand, damit Chris ihn wiedersehen kann. Und natürlich sagt Dick nicht zu. Sylvère aber hat dieses Gespräch heimlich aufgenommen, und das Transkript ist gleich mit abgedruckt.
"Es muss der Wüstenwind sein, der uns in jener Nacht zu Kopf gestiegen ist, vielleicht auch der Wunsch, das Leben ein wenig zu fiktionalisieren“, heißt es einmal. Denn "I love Dick" ist vor allem ein Roman über das Schreiben. Über die spannenden Sachen, die passieren, wenn man sich mit der Produktion von Literatur beschäftigt. Dass man anfängt, alles Autobiografische, alles, was man erlebt und sieht und hört, irgendwie in den nächsten Roman mit einzubauen, und sei es verfremdet, sodass es niemand wiedererkennt. Oder eben so, dass die beteiligten Personen sich wiederfinden - wie der der britische Kulturtheoretiker Dick Hebdige, der diesen Roman ziemlich abstrus fand. Dabei schreibt Chris im Roman: „Wie konnte ich dir nur begreiflich machen, dass meine Briefe an dich das Echteste waren, was ich je getan hatte?“
Und plötzlich bricht auch das feste Paar zu Neuem auf, spricht miteinander, denkt gemeinsam nach, wendet sich dem anderen zu. Sogar das Begehren flammt wieder auf. Er schreibt an Dick: „Gelegentlich kam der beunruhigende Gedanke auf, dass ein Paar ohne Sex eigentlich kaum ein wirkliches Paar sei. An diesem Punkt, gerade als wir uns selbst davon überzeugt hatten, dass ein Leben ohne Sex ein besseres Leben sei, tratst du in unser Leben wie ein Engel der Barmherzigkeit.“
Es ist ein herrlich komischer, wenn auch auf einer Ebene etwas verkopfter Roman. Minutiös können wir nachverfolgen, wie sich Chris immer mehr verstrickt. Wie sich das Objekt ihrer Begierde, der Dick ihrer Fantasie, immer mehr ablöst von dem "wirklichen" Dick. Wie er immer literarischer, immer poststrukturalistischer wird. Wie sich ihrer Verliebtheit in einen nebelhaften Wust von Theorien, Annahmen, Fantasien und Gefühlen verwirrt.
Das Buch ist inzwischen ein Kultbuch des feministischen Schreibens, Autorinnen wie Sheila Heti, Rachel Kushner oder Leslie Jamison, die Sängerin Lorde, der Serienstar Lena Dunham loben ihn, und für diesen Frühling wurde auf Amazon sogar von Jill Soloway von der Familienserie "Transparent" eine Serie daraus produziert. Das Schönste am Roman ist wohl, wie man einigermaßen kühl den Aufwallungen folgen kann, wie man ein extrem gelebtes Leben mitgenießen kann - selbst wenn dieses Leben nur auf dem Papier besteht, denn zunächst treffen sich Chris und Dick ja gar nicht. Aber hier bricht etwas auf, das so vielen festgefügten Paaren doch auch gut täte, sie aus der ehelichen Provinz befreien könnte. Nicht umsonst fällt Sylvère Madame Bovary ein: "Wegen Dick haben Sylvère und Chris die vier intensivsten Tage ihres Lebens miteinander verbracht. Sylvère fragt sich, ob er sich ihr einzig und allein dann nahe fühlen kann, wenn jemand anderes die beiden auseinander zu reißen droht."
Wir können auch nachverfolgen, was Liebe eigentlich ist, dass sie mit Obsessionen nichts zu tun haben und manchmal sehr wenig mit dem anderen - Dick weist Chris am Schluss, nachdem sie miteinander geschlafen haben, sogar brüsk zurück, als er ihre Raserei mitbekommt. Nein, es ist Chris' Geschichte, Dick selbst ist sowieso meist abwesend. Es sind ihre Gefühle, ihre Sehnsüchte, ihr Begehren, ihr Verlangen, ihre Hemmungen. Viele davon sind auch gesellschaftlich determiniert, hängen an den Geschlechterrollen. Auch ihr Hausmütterchenspiel am Anfang, als sei sie keine Intellektuelle, die über Philosophie diskutieren könnte, ihre Existenz als erfolglose Künstlerin, während ihr Mann langsam Karriere macht und sie aushält - all das ist damals wie heute leider ziemlich geschlechtsspezifisch.
Und so erfahren wir aus diesem Buch ganz nebenbei auch etwas über den Stand der Emanzipation. Nicht nur der offiziellen, die sich an einer Frauenquote in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft ablesen ließe. Sondern auch die innere, das den Frauen selbst eingetrichterte und innewohnende Bild einer Frau. Denn natürlich will sich Chris für den Mann ihrer Träume interessant machen, natürlich will sie auch eine gute Ehefrau sein. Sie will sozial erwünscht sein, nicht peinlich.
Das Buch hängt so sehr schön zwischen den Genres, ist Fiktion und Autobiografie, Briefroman und Komödie, Essay und Kunstkritik in einem, eine schreibende Performance, eine Inszenierung von Gefühlen und Erfahrungen, bei denen man nie weiß, was ist erfunden, was ist übertrieben, was ist echt. Ein wenig Voyeurismus ist dabei (einmal spricht sie von einer "masturbatorischen Passion"), und es ist ein Roman über das Schreiben von Romanen: "Glaubst du nicht auch", schreibt Chris an Dick, "dass es durchaus möglich ist, etwas zu tun und es zugleich zu erforschen?" Und Kunstgeschichte und Kunstkritik ist auch noch drin, vor allem im zweiten Teil, in dem sie die Kunst selbst schreibend reflektiert, kritisch und feministisch: "Warum ist die weibliche Verletzlichkeit nach wie vor allein dann akzeptabel, wenn sie neurotisiert und persönlich ist, wenn sie auf sich selbst zurückweist? Warum begreifen die Leute es immer noch nicht, wenn wir mit der Verletzlichkeit wie mit der Philosophie umgehen, nämlich mit einigem Abstand?"
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