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Kritik

Daß die Erde auftaut im April

Der Dresdner Christian Lehnert legt mit „Auf Moränen“ seinen vierten Gedichtband binnen eines Jahrzehnts bei suhrkamp vor und etabliert eine  wunderbare Lyrik, die offensichtlich keine Erfindung ist.

Im ersten Kapitel sind es Erlebnisse, Geschichten aus dem Alltag eines Bausoldaten,  der auf der Pritsche liegt und eingeholt wird von Geräusch und Weltgebärde, oder im Lehm steht, dem Dunkel davon zu hacken versucht, das auf ihn einregnet. Es sind so genau Bilder, die sich ineinander weben, dass sie zu einem Film werden, der nicht ohne Sehnsucht ist. Er spielt in einem alten KdF-„Seebad der Zwanzigtausend“, das der NVA nun als Kaserne dient, in Prora, einem kleinen Dorf auf Rügen.
Lehnert ist ein Pendler, der das Wirkliche um ihn als ein Gültiges in das Gedicht holt, wie es nur die Poesie kann, wenn sie dem Zauber und dem Geheimnis neue Paßwörter gibt, der aber gleichzeitig hinüberlangt in eine Stille, die ihm als Spiegel des Eigenen dient. Denn das scheint sicher, ein Ich ist enthalten eher im Dialog mit der Stille, dem Gebet, aber es taucht auf auch als Frage an sich selbst im Graben, wenn die fette Erde am Spaten klebt und alles schwer ist von Regen. Es gibt den Gedanken an die Flucht aus der Kaserne, über den Sperrzaun hinweg, und es gibt Schüsse - ein Reh hat sich darin verfangen -, sagt man.

Im zweiten Kapitel montiert Lehnert in seine Gedichte Zitate aus Reden Erich Mielkes, aus Protokollen und Dokumenten von und über ihn und zeichnet das bissige Bild eines Menschen, dessen Ungeheuerlichkeit eigentlich eine psychische ist, indem er vergeblich ein Ich sucht, das mehr ist als ein „bloßes Stochern im Dunkel“. Auch uns bleibt er seltsam verborgen, jener „Anpassungsvirtuose“ Mielke (wie ihn der Klappentext nennt). Lehnert erarbeitet dessen ambivalentes Erscheinen und enthüllt dessen schlüpfrige Daseinsantworten ohne sich selbst und das eigene Empfinden dabei zu schonen, setzt sich dem alten, unausweichlichen Schmerz aus und findet keine Balance. Unmöglich eine Balance zu finden, wenn die Sache „nicht fester ist als Atemluft“, wie er das Kapitel überschreibt. Eine Unbestimmtheit, die zum Himmel stinkt. Es scheint so als gäbe es nichts als „verdorbenes Fleisch / in der Seele, massenhaft Fleisch, massenhaft“ und Mielkes Geist ist ein einziges Schattenspiel mit austauschbaren Wahrheiten. Nicht zu fassen ist das. Nicht zu fassen.

Lehnert hat u.a. Religionswissenschaften und Theologie studiert, arbeitet als Pastor und ist also mit Bestimmtheit ein gläubiger Mensch, ohne dies je anders als mit einer natürlichen Selbstverständlichkeit zu bekennen. „Man muß glauben, als glaubte man nicht“, hat dies Hermann Kurzke so treffend in seiner FAZ-Rezension zusammengefaßt. Lehnerts Religiosität mag ein Grund dafür sein, daß er unter den Gegenwartslyrikern nicht ganz den Rang einnimmt, der ihm aufgrund seiner scheinbar unverbrauchbaren Sprachkraft zusteht. Frommes Dichten gilt ja nicht zu unrecht als verinnerlichtes, zu plakativ ins Meditative fassendes Dichten und man vermutet dahinter kaum diese offene Unbedingtheit, wie sie Lehnert ganz konsequent kennzeichnet. Er ist frei und wild, er ist nicht brav und Pastor. Er ist zeitlos nicht im Versteck des Gestrigen, sondern in der Authentizität vor Ort.

Dem Apostel Paulus widmet er das dritte Kapitel des Buches in 24 Vigilien, das sind Gebetsstunden, wenn die Nacht in den Morgen hinübergleitet, in gewissem Sinne Nachtwachen, die im Zwielicht haltlos das Haltbare erwarten. Angelehnt an Bibelzitate collagiert Lehnert virtuos was im Warten aufscheint, wenn die Zeit versucht ihr Verstreichen als Moment der Dauer zu tarnen. Und Paulus wartet auf die Überwindung von Zeit und Trennung. Vielleicht bewirkt das eine das andere. Ich habe selten ähnlich leidenschaftliche Lyrik gelesen, die seelisches Kämpfen so natürlich in Gedichte übersetzt. Kaum ein Dichter begeht heute diese Sphären, vielleicht aus Angst „verteufelt“ zu werden – bei Lehnert ist hier etwas intakt, was eigentlich schon immer zum großen Dichten gehört: keine Angst zu haben, das Innere nach Außen zu kehren und das Untere nach Oben, im Vertrauen auf die Poesie die Abgründe auszumessen, die in uns wohnen. Poesie nämlich öffnet sich aus der Perspektive, ist das Hindurchsehen und nicht nur Betrachten.

Am Ende steht die Geburt. „Unerwartet der Schwall Blut und das schwarze, kaum erträgliche / Köpfchen, das Haar wie ein Raubtier inmitten / der zerfetzten Beute.....“ Es ist Christi Geburt, die das vierte und letzte Kapitel von Lehnerts wundervollem Gedichtband eröffnet. Und es ist der Traum des Golem, der dann den Szenen des ersten Werdens folgend, dem Schluß zuleitet: „Weiter bin ich gegangen, immer weiter, damit nichts / endgültig würde, nichts gesagt sei und bliebe....“ Dennoch gibt es verläßlich Geburt und Tod, aber ob der Traum dabei ein Anderes ist, verschieden vom Stein, entscheidet das Wort Vertrauen. Das in etwa ist der Kreis, in dem sich die Gedichte des letzten Kapitels bewegen, die sehr unterschiedlich beschaffen sind und nur störrisch zueinander finden. Da stehen Sonett und Kirchenlied neben Kürzestzyklen und Kurzgedichten, allerdings alles in seiner Art auf den Punkt komponiert - Lehnert kann das. Er gehört zu den wirklich großen Könnern der deutschen Lyrik und es ist zu wünschen, daß man ihn mehr und mehr liest. Wir können nämlich von der Ernüchterung, die uns das Tempo der Zeit aufdrängt, einen Abstrich machen und das infizierte Blut gerinnen sehen, das ist kaum mehr als die Oberfläche, aber wir können auch, mit Lehnert, nach wie vor, in Tiefen sein, die unberührt von der Moderne den Raum hergeben für den Versuch einer ursprünglicheren Versöhnung, wenn wir die Seele als kryptische Weltantwort zulassen. „Du bist der Raum, in dem ich widerhalle / und endlos falle.

(Aufgelesenes Papier)

„Ausgesetzt am Straßenrand, sah er, wie ein Tier, so dick
wie ein Finger, ins Gras kroch, und nannte es Schlange.
Es war sein erstes Wort seit Wochen, während Trümmer
und die aufgebrochenen Flöze des Asphalts unwirklich
wie geblasenes Glas vorüberzogen ... Wie die Menschen
hier sprachen, glich der Enge eines Lagers, wo Frierende
zusammenkrochen und vor Hunger apathisch Buchstaben
in den Sand zeichneten. Nachts, wenn er schwerer
sichtbar war, rannte er über Freiflächen auf die zersiedelten
Ruinen zu. Er war stumm, er war blind. Er hörte den Wind
durch die Pappeln wehen und durch die nassen Bücher
einer verwüsteten Bibliothek. Er bezeugte nichts,
hatte nichts zu erzählen. Er folgte einer Straßenflucht nach Osten,
fand ein Springseil und ließ es kreisen, bis er nicht mehr konnte ...
Wie heißt du? ...“ Ich war atemlos vor Erwartung ...

Hier beobachtet jemand, dem die Erscheinung vertraut ist, der sich einlässt auf die Gesichter der Welt mit einem stillen, männlichen Ernst. Was wirklich geschieht verträgt seine Spuren in die Gedichte. Und was als Ich eine Rolle spielt, spielt keine Rolle.

Christian Lehnert
Auf Moränen
Suhrkamp
2008 · 126 Seiten · 16,80 Euro
ISBN:
978-3-518419540

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