Sprache und Religion
In seinem Gedicht „Dichtung und Religion“ bescheinigt der australische Dichter Les Murray beiden Phänomenen nicht nur die gleiche Wertigkeit, er behauptet darüber hinaus, Religionen seien Gedichte. „Gott ist die Dichtung, die in jeder Religion gefangen wird“ steht da, „gefangen wie in einem Spiegel.“
Christian Lehnert bewegt sich als Dichter und Theologe zwischen Dichtung und Religion, wenn er sich auf die Suche nach Paulus macht, auf die Suche nach diesem einzigartigen Apostel und danach, was für ihn, Christian Lehnert, die große Anziehung ausmacht, die Paulus auf ihn ausübt. „Korinthische Brocken“ heißt das Buch, in dem er diese Annäherung vollzieht, und dieser Titel beschwört eine weitere Assoziation herauf, die von Skyphos, der immer wieder den Stein den Berg hinaufrollt, unermüdlich dem Scheitern sein Dennoch entgegensetzt.
Mosaik aus dem 5. Jahrhundert in der Cappella Arcivescovile in Ravenna
„Paulus wirkt in der Bibel wie ein Entwurf: als der erstmals gründlich reflektierte Versuch eines Menschen, im Horizont des Christus zu leben, “ schreibt Lehnert über einen ersten Impuls sich Paulus immer wieder in kurzen Schlaglichtern anzunähern. In den Briefen des Paulus bemerkt Lehnert ein andauerndes Ringen um Sprache, ein Ringen das mit dem eigenen Ringen um Verständnis korrespondiert. In seinem Essay liest Lehnert Paulus Brief Wort für Wort, hält immer wieder inne, um Begriffe zu klären, sich klar zu werden, was gemeint war, gemeint sein könnte. Akribisch erarbeitet er sich Wort für Wort, geduldig wird der Weg der Aneignung beschritten und beschrieben, inklusive Stolpern und Stillstand.
Paulus hat seine Berufung zum Apostel als einen tiefgreifenden Wandel seiner Identität erfahren. Statt etwas zu gewinnen, verliert Paulus zunächst; seine Sicherheit, die Konturen seines bisherigen Lebens und gewinnt nichts weiter als eine Spur, die „sagbare Spur des Unsagbaren“. Er wird zu einem „Stotterer im Geist.“ Diesen Spuren des frühen Christentums geht Lehnert nach und findet: „das frühe Christentum schuf keine Sonderwelten, sondern setzte das einfach Leben in einen neuen Zusammenhang.“ So setzt auch Lehnert das Gelesene mit seinem Leben, mit plastischen, handfesten Erinnerungen und Erfahrungen in Verbindung, mit Erfahrungen während des Wehrersatzdienstes in der DDR zum Beispiel; in der Masse hat der Einzelne nur zwei Möglichkeiten herauszutreten: als Opfer oder als Führer. Dabei leitet das Opfer Gewalt aus den Binnenbeziehungen der Gruppe nach außen ab, und sorgt dafür, dass die Gemeinschaft sich stabilisieren kann. Im Christentum findet lediglich ein Perspektivwechsel statt: Jesus von Nazareth ist eine neue Art von Opfer. Ein Opfer, mit dem man sich identifizierte. „Damit scheint Mitleid als Möglichkeit auf, wo vorher nur das Ritual stand.“
Immer wieder begegnet dem Leser Christian Lehnert die Sprachlosigkeit des Paulus, er steht mit ihm an den Grenzen der Sprache, dort, wo die Sprache nur noch zeigen kann, „[¡K] wenn die Worte an etwas rühren, an dem sie nur zeigen können, daß sie wie tote Zeichen geschieden sind vom Menschen, vom Sprechenden, und der verstummt, weil er sich nicht mehr darin wiedererkennt.“
Das Wort vom Kreuz markiert diese Unmöglichkeit zu sprechen, weil sich hier das Absurde, Paradoxe des Christentums manifestiert: der göttliche Sohn stirbt, der gestorbene Mensch ersteht auf. Lehnert zitiert dazu Tertullian: „Das Sterben des Gottessohnes ist glaubhaft, weil es ungereimt ist, seine Auferstehung ist gewiss, weil sie unmöglich ist.“ Diese Grenze der Sprache ist gewollt und notwendig, so versteht Lehnert das Schweigegebot der urchristlichen Gemeinden als Schutz einer Erfahrung vor der Sprache. Wittgenstein bringt es mit seinem berühmten Satz auf den Punkt: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“
Indem man von etwas Unerreichbaren redet, entfernt man sich davon, verklärt es.
Paulus war kein überzeugender Redner, schreibt Lehnert, und gerade darin liegt seine Glaubwürdigkeit. Das Irritierende an der Paulus Erfahrung wird erfahrbar durch die Offenheit, mit der Paulus davon berichtet. Es ist gerade die Undenkbarkeit Gottes, die Gott offenbart. Diesen Zusammenfall des Gegensätzlichen thematisiert Paulus immer wieder aufs Neue: „Gott ist, wo nichts ist. In der Fülle der Leere.“ Vor diesem Hintergrund wird eine weltliche Rechtsprechung zweifelhaft, ebenso wie eine chronologische Vorstellung von Zeit. Paulus definiert eine besondere Kontur der Zeit: das Jetzt hebt die Zeit auf. Die Zukunft ist nicht getrennt von der Gegenwart, es gibt insofern kein Jenseitskonzept. Der Tag auf den es ankommt, wird von keiner Chronologie erfaßt. Bis zu diesem Moment ist das Leben ein Leben im Konjunktiv, ein als ob.
Das einzige, was dieser Zeit Form verleiht, ist die Liebe. Ohne Liebe ist Religion nichts, oder schlimmer: Fundamentalismus. Und weil Religionen Gedichte sind, gilt diese Bedingung auch für das Wort. Sprache wird nur durch Liebe zur Aussage. Der Preis des Glaubens besteht darin, jeglicher Gewißheit beraubt zu sein und nur die Liebe zu haben, um sich dagegen zu wehren, nicht den „Panzer der Begriffe“.
Daher auch das Hermetische der Sprache, das nicht zu fassen und zu verstehen ist, sondern begriffen werden will, indem man sich dem Unverständlichen überlässt (wie bei einem Gedicht).
„Die Menschen dort abholen wo sie sind, das macht nur der Teufel“, zitiert Lehnert Peter Sloterdijk. Weder Paulus ist abgeholt worden, noch Christian Lehnert.
Für mich illustriert Lehnerts Leseart des Paulus Briefes, über gesellschaftspolitische und theologische Auseinandersetzung hinaus, beispielhaft, was Novalis in seinen Blütenstaubfragmenten als den wahren Leser, als erweiterten Autor, bezeichnet.
Wie hier ein sehr alter Text mit neuen Texten und Erfahrungen verknüpft wird und durch diese Erweiterung etwas Neues entsteht, ist für mich das Faszinierendste an diesem Buch, das darüber hinaus Einsichten in Religionsgeschichte und Zeitgeschichte bereithält, sowie eine Untersuchung dessen, was Sprache kann, gerade indem sie an Grenzen stößt.
Fixpoetry 2013
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