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Kritik

Vom Fuchs besessen.

Christine Wunnicke erzählt voller Verve und Ironie die tragikomische Geschichte des japanischen Arztes Shimamura Shunichi, der in Japan die Fuchskrankheit erforscht und in Paris die Hysteriebehandlung bei Dr. Charcot erlebt.
Hamburg

"Der Winter ging zu Ende, und pünktlich stieg das Fieber. Deswegen begann Shimamura Shunichi, Professor Emeritus für Nervenheilkunde an der präfekturalen medizinischen Hochschule zu Kyoto, wieder einmal über die Wege des Lebens nachzudenken. Die deutsche Sprache, die er zu diesem Zweck bevorzugte, verwob sich in seinem Kopf zu komplizierten, zunehmend überhitzten Gespinsten. Dr. Shimamura litt an der Schwindsucht."

Aber er litt noch an etwas anderem. Was genau es ist, weiß man nicht. Ein Trauma? Eine Krankheit? Einen Dämon? Viele Jahre vorher, 1891, als junger Arzt, Lieblingsschüler seines Professors Sakaki Hajime, ist er von ihm aufs Land geschickt worden, um die Fuchskrankheit zu erforschen: Frauen, die von einem Fuchsgeist besessen waren. Mit einem etwa fünfzehnjährigen Assistenten, den er nicht mag, den ihm sein Doktorvater aufgedrückt hat, reist er durch die Dörfer in der Provinz Shimane und untersucht die Frauen. Und gibt ihnen moderne, westliche Diagnosen: "Trunksucht, Kretinismus, Ovarialabszess mit Durchbruch ins Rektum". Er fand nichts Neurologisches, worauf ihn sein Professor hingewiesen hatte, er fand Tuberkulöses, eine Meningitis, "drei schlichte Grippen und allerlei unklare paralytische Affektionen", worauf Shimamura es leid war und "er diagnostizierte ohne jegliche Berechtigung eine choreatische Manie, nur weil ihm das Wort gefiel, sowie eine Graviditätspsychose." Bis er auf Kiyo trifft, eine junge Frau.

Ihre Besessenheit vom Fuchsgeist zeigt sich auf eindrückliche Weise. Zuerst dachte Shimamura, die etwa Sechzehnjährige sei eine Schauspielerin, die Sakaki in die Provinz geschickt habe, um ihn zu ärgern. Aber dann legte sie los: Sie schoss "aus der Verbeugung hinauf in die Vertikale, legte den Kopf in den Nacken und schrie. Heulte. Ein erst spitzes, dann kehliges Jaulen, das nicht abriss. Sehr viel Luft schien in diesem Persönchen zu sein, unglaubliche Mengen von Atemluft. Immer noch auf den Knien bog sie sich in eine Art rückwärtige Verbeugung hinein, bis ihr Kopf fast wieder die Bodenmatte berührte, nur auf der falschen Seite. Und der Schrei riss nicht ab. (...) Der ganze Leib schien verrutscht. Kiyos Schultern und Ellenbogen waren an Stellen geraten, welche die menschliche Anatomie nicht vorsah. Und wo waren die Hände? Krampften sie in den Kniekehlen? Rückwärtig um die Knöchel? Würde sich Kiyo nun vollends umkrempeln, wie ein Handschuh?"

Aber der Anfall war noch nicht vorbei. "Das kehlige Jaulen kippte zurück in ein schrilles, dann begann es zu zittern und schließlich verebbte es in einem tiefen Röcheln. Kiyo reckte den Hals. Ihre Augen rollten zurück. Einen hoffnungsvollen Moment schien es Shimamura, als bahne sich eine schöne tonische Streckung an und die Geschichte nähme doch noch eine vernünftige epileptische Wendung". Stattdessen sah er, wie sich der Fuchs in Kiyos Leib, unter ihrer Haut, bewegte. Langsam über den Bauch in den Thorax kroch, in den linken Oberarm hinein, in den Hals und dann in die Mundhöhle strebte. Dann machte es kehrt, verkroch sich wieder in ihren Unterleib. Und sagte das Wort "Paroxysmus": "Er hatte eine raue, weise, alte Stimme." Zwei Wochen blieb er bei ihr, untersuchte sie - ohne Ergebnis. Bis sie eines Nachts auf das Dach kletterte. Shimamuras Assistent kletterte hinterher und blieb danach verschwunden. Und sie zeigte ab dem nächsten Tag keine Symptome mehr.

Dieses Erlebnis verfolgte Shimamura sein Leben lang. Noch im hohen Alter versteckt er einige Gegenstände, die Kiyo gehört hatte, hinter einer Ausgabe der Schriften des Neurologen Jean-Martin Charcot . Auch seine weiteren Erlebnisse sind skurril: Mit einem Stipendium und einigen Deutschkenntnissen reist er nach Paris, um Medizin zu studieren und muss feststellen, dass niemand Deutsch kann. Er gerät in die berühmte Anstalt von Charcot und wird dort Zeuge einer öffentlichen Vorführung einer Französin, die in ihrem durch Hypnose induzierten Anfall ein japanisches No-Theaterstück aufführt. Und er fährt nach Wien, wo er den Psychoanalytiker Josef Breuer trifft, einen Freund und Kollegen von Sigmund Freud, der erfolglos versucht ihn zu behandeln. Shimamuras Fazit über die Psychoanalyse ist, dass diese Methode nicht für Japan taugt, weil die Japaner viel zu höflich sind. Schließlich kehrt er nach Japan zurück, wo er vor allem forensische Medizin lehrt.

Christine Wunnicke erzählt diese abstruse Geschichte aus der Zeit vor der Jahrhundertwende, kurz vor Entstehung der Psychoanalyse sehr liebevoll mit vielen Details aus dem japanischen und dem westlichen Leben. Distanziert und mit viel Ironie, pfiffig und hintersinnig in den vielen, kleinen Erlebnissen und Erinnerungen behandelt sie den aus der Welt gefallenen Shimamura, der weder das Rätsel um Kiyos Besessenheit noch die vielen Rätsel aus der gerade entstehenden neuen Wissenschaft der Neurologie und Psychoanalyse entschlüsseln kann. Der im Alter in einem Haus mit vier Frauen sitzt - seiner Gattin, ihrer Mutter, seiner Mutter und einer Frau, von der man nicht weiß, ob sie Patientin oder Krankenschwester ist und die er mal Luisa mal Anna nennt. Jeden Morgen schleppt sie einen Bottich mit Wasser in sein Zimmer, niemand weiß warum.

Nach und nach stellt sich heraus, dass Shimamuras Gedächtnis nicht mehr besonders gut funktioniert. Sich an vieles nicht mehr erinnert oder falsch oder es schlichtweg nicht verstanden hat: Dass z.B. Kiyos Sachen, die er nach seiner Behandlung mitgenommen hatte, versteckt hat, von seiner Frau regelmäßig ausgetauscht werden, ohne dass er es merkt. Auch in Europa hat er vieles nicht verstanden, und bis zum Schluss bleibt unklar, ob er selber auch psychisch krank war, an Hysterie litt oder dem Fuchsdämon. Oder ob die vielen Missverständnisse in Europa vielleicht kultureller Natur waren, ein vergeblicher Versuch, die westliche Wissenschaft ungefiltert aufzunehmen, aus lauter Begeisterung für das Moderne, ohne es aber auch kritisch zu hinterfragen oder zu sehen, ob es zur japanischen Gesellschaft auch passt.

Spannend, ironisch und lakonisch, manchmal fast parodistisch erzählt Wunnicke diese Episode aus der Wissenschaftsgeschichte und verflicht sie schön und geistreich mit der Biografie von Dr. Shimamura, der tatsächlich gelebt hat - die wenigen Spuren sind im Buch mit abgedruckt. Es ist ein schmales Buch, das zwischen dem Amüsement über die Kunststücke der Autorin und dem Einblick in die fremden Welten Japans und der Psychiatrie vor allem auch ein wenig Mitleid vermittelt über die Tragik dieses Arztes.

Christine Wunnicke
Der Fuchs und Dr. Shimamura
Berenberg Verlag
2015 · 144 Seiten · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-937834-76-4

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