Der Abbau und das Fortsein
Westfalen war mir immer schon ein Rätsel. Lange Zeit wusste ich gar nicht, wo es eigentlich liegt, und im Grunde weiß ich es, wenn ich ehrlich bin, heute noch nicht. Ich kenne Westfalen im Grunde nur aus der Literatur und dem Geschichtsunterricht (Westfälischer Friede). Und alle Westfalen, die ich getroffen habe und die sich zu ihrer Herkunft bekannten, waren von dort weggezogen.
So auch Christoph Wenzel, der heute als „Exilwestfale“ in Aachen lebt.
Aber, und das ist erstaunlich, der Landstrich oder das Land (ich weiß nicht genau, wie es sich definiert) leistet sich in Oelde ein Museum für Westfälische Literatur. Und dort wird unter dem Namen roterfadenlyrik Edition Haus Nottbeck eine Reihe ansprechend gestalteter Heftchen herausgegeben. Und unter dem Titel weg vom fenster erschien eben auch eines mit den Gedichten des diesjährigen Alfred-Gruber-Preisträgers Christoph Wenzel. Wenzel wurde 1979 in Hamm geboren, ist Mitherausgeber der Literaturzeitschrift Sic und hat in verschiedenen Verlagen Gedichtbände veröffentlicht.
Der Zyklus, für den Wenzel den Gruber- Preis erhielt, ist Bestandteil des vorliegenden Heftchens, und er fällt, wenn man das so sagen darf, auch aus dem Band heraus. Die anderen Gedichte zielen nämlich nach einer Ferne hin, beschwören so etwas wie einen grenzenlosen Himmel oder gehen zurück in die Kindheit, sind also gewissermaßen Dokumente eines Entrinnens.
Der Preistext bewegt sich kaum weg vom Ort seiner Entstehung, und er operiert mit einem Sediment, einem historisch sich erhaltenden Vokabular.
Die Reste des Bergbaus sind Sprache, und diese Alltagswendungen sagen mehr als die zu Kulturtempeln und Schaubergwerken umgebauten Zechen. Es sind die in der Alltagskultur abgelagerten Muster, die Wenzel interessieren und die das Dunkel übertage sichtbar lassen. das schwarzbuch die farbfotos lautet der Titel der zehn lateinisch durchnummerierten Texte, und ihr letzter beginnt mit den Versen:
die zeche war ein altes maß und jetzt
die rechnung bitte - wir sind abgebrannt:
Allerdings fällt es eben schwer aus dem postapokalyptischen Raum des vergangenen Bergbaus zu fliehen, weil sich in der Arbeit ein Fluchtvermögen nicht entwickelt hat:
draußen orgelt ein kadett und springt
und springt und springt nicht an
So endet der Zyklus als Zeugnis durchaus misslingenden Fortkommens. Und die für die Kumpel so bezeichnende Brieftaube, die im Text natürlich präsent ist, behält über das Zechensterben hinaus ihren Symbolcharakter.
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