Die Individualität der Wegsamkeit
hinter glas / steht sand / in der verjüngung / grüßen wahn und wort / reichen rückwärts sich die hände // jenseits / fegt der wind / queck-silbern / kopf und herzen fort ("café sperl, wien")
Christoph Wenzel (geb. 1979 in Hamm/Westf., zahlreiche Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien, Mitherausgeber der vortrefflichen Literaturzeitschrift [SIC]), macht es den Lesern seines ersten Gedichtbandes "zeit aus der karte" (Rimbaud, dort als 49. Lyrik-Taschenbuch erschienen) nicht unnötig leicht. Größtenteils fragmentarisch und überaus bildreich führt er seine lyrischen Gäste in die innere Reizüberflutung, deutet an, bricht aus und ab, setzt woanders wieder an, lässt dadurch ausführlichst Möglichkeit zur Interpretation. Nur wenige Texte finden sich, die sich bereits beim ersten Lesedurchgang inhaltlich so vollständig erschließen lassen wie seine Studie eines Musikers:
im spiel die bewegung von klappen
und tasten
zunächst: luftstrom und anschlag
dann die leerstelle zwischen erregung und klangin erwartung des tons
nähen die blicke den musiker
ans instrument: finger
und mund im spielmit dem körper
Wie die Banderole des ansonsten schlichten Umschlags, zieht sich ein wiederkehrendes Motiv als roter Faden durch das Buch: die Bewegung innerhalb der Zeit (und wie sie den Körper, noch stärker jedoch die Seele beeinflusst), die eigene Unbestimmtheit, Fremdbestimmtheit. Die Marschrichtung vorgegeben (durch wen?), doch auf was wir dort treffen, ist die Individualität der Wegsamkeit. Jede Passivität, sich in Vorgegebenes einzufügen, es aufzunehmen und anzunehmen (vom Verstehen möchte ich an dieser Stelle - noch - nicht sprechen), gerinnt in der Aktivität des Erkennens, des Gestaltens: eine Kiste, ein Tag im Mai, der sich verändert, der auch den Protagonisten einer umfangreichen Metamorphose unterzieht, der in der Lage ist, vor seinen eigenen Augen zu transformieren: ES IST HERBST // sagte ich im mai / und die blätter fallen // mir vom tisch / wenn der wind // durchs offene fenster geht / tritt die stille ein // loch in meine zimmertür -- das Leben (und was wir dafür halten) in seinem zeitlichen Rahmen, in seinem Zeitfenster, welches sich nur sehr bedingt kontrolliert schließen oder auf kipp stellen lässt.
40 Gedichte auf 68 Seiten, unterteilt in fünf äußerst unterschiedlich lange Kapitel – es stimmt, und manche werden es bemängeln: als "Wälzer" kann man "zeit aus der karte" damit sicherlich nicht bezeichnen. Doch wer es noch immer nicht gelernt und verstanden hat, der lerne und verstehe es jetzt: Lyrische Qualität (und nur darauf kommt es letztendlich an, wenn einem jeden Lyriker im Leben wirklich nur 5 oder 6 vollendete Gedichte vergönnt sind – wenn man Gottfried Benn da glauben darf) drückt sich nicht durch viele Seiten aus – bereits wenige gut ver"dichtete" Zeilen können aus unscheinbarem Papier einen Geistesschatz werden lassen. Ich jedenfalls habe "zeit aus der karte" mit Genuss und Gewinn gelesen. Für Christoph Wenzel bleibt nur zu hoffen, dass seine Sprache nicht tatsächlich eines Tages von ihm abzufallen gedenkt und sein Gedicht "zu fall" unerfüllt bleibt: ich kam / zur sprache // wie die jungfrau / zum kinde / & / sie fällt / von mir ab // wie das kind / in den brunnen.
Fixpoetry 2009
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