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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
Kritik

Derek Walcotts lyrische Topografien

Hamburg

Anlässlich seines 85. Geburtstags erscheint es sinnvoll, den Band »white egrets« / »Weiße Reiher« des karibischen Dichters und Literaturnobelpreisträgers Derek Walcott, dessen jüngster Gedichtband von Prof. Dr. Werner von Koppenfels 2013 übersetzt und von der Stadt Münster mit dem Preis für internationale Poesie ausgezeichnet worden ist, genauer zu betrachten.

Der Band »Weiße Reiher« ist zweisprachig bei Hanser erschienen, was zu begrüßen ist, da eine Übersetzung, so gut sie auch sein mag, einen Vorschlag, eine Variante darstellt und eine Art angewandte Textkritik bleibt, sodass die Gegenüberstellung mit dem Original unerlässlich ist.

Für den emeritierten Anglisten und Komparatisten der LMU Werner v. Koppenfels war es ein Debut, einen geschlossenen Lyrikzyklus zu übersetzen, da er bisher einzelne Gedichte für Anthologien u.a. von Emily Dickinson und Gesammelte Werke, bspw. von Geoffrey Hill übersetzt hat.

Jede Übersetzung sei ein Act of love betonte v. Koppenfels bei einer Veranstaltung zu Derek Walcott im Lyrik Kabinett im Mai 2015. 

Wie die Gedichte Geoffrey Hills oder Les Murrays, so ist auch die Lyrik von Derek Walcott im deutschsprachigen Raum noch immer ein Geheimtipp, was sich allmählich aber zu ändern beginnt.

Der aktuelle Band besteht aus 54 nummerierten Gedichten und umreißt in einzigartiger Farbigkeit die topografischen Besonderheiten der Karibik. Die Landschaft mit ihren Menschen und Tieren wird darin genauso thematisiert wie die Vegetation Europas, die durch den Blick des reisenden Dichters hindurchgeht.

Walcott geht dabei den umgekehrten Weg: er kolonialisiert nicht, so wie einst die Europäer seinen Heimatkontinent okkupiert und ausgebeutet haben, sondern er integriert und verarbeitet das alte Europa mit seinem einzigartigen Blick darauf, den man beinahe als unschuldig bezeichnen kann. Die üppigen Bilder und die satten Vegetationsschilderungen haben mit der Kargheit und Ausnüchterung deutscher moderner Lyrik wie der Konkreten Poesie nichts zu tun. Die Literaturgeschichte scheint eng mit der Geschichte eines Landes bzw. Kontinents verbunden und die Lyrik des 20. Jahrhunderts ist in Europa von zwei Weltkriegen gezeichnet worden. Walcott dagegen schöpft aus dem Vollen in seinem Blick auf Europa.

Besonders Italien begeistert ihn und taucht immer wieder in seinem Werk auf. Walcott geht bei seinen Beschreibungen der Landschaft und Gebäude wie ein Maler vor, seine Gedichte erscheinen wie Aquarelle, da besonders die Farben aus den Texten hervortreten. Geräusche und Farben machen die Üppigkeit dieser Gedichte aus und verleihen ihnen etwas ungetrübt Sinnliches. So heißt es beispielsweise zu Beginn des Minizyklus »Sizilianische Suite«: 

»I am haunted by hedges of pink oelander
along the Sicilian roads, their consonants of gravel
under the tires, by stone piles, by walls whose wonder
is that there was no need to travel
this far, to recognize things already knew,
except, and now it grows, the odd broken castle
through whose doors peered a Caribbean blue,
and the name of Ortigia that rings like crystal
in its fragile balance. In the pine's rustle
and the silver alder's and the olive's, a difference began,
sounds that needed translation. That sea was the same
[...]«

»Sie verfolgen mich, die rosa Hecken von Oleander
an den Straßen Siziliens mit ihren kiesigen Konsonanten
unter den Reifen, die Steinhaufen, die Mauern, deren Wunder
darin besteht, daß es keiner so weiten Reise
bedurfte, um wieder zu kennen, was ich kannte,
doch da war dieser seltsam geborstene Bau, schon wird er größer,
durch die Tore schaute karibisches Blau,
und der Name Ortigia, klingend wie Kristall
in seinem brüchigen Gleichgewicht. Aus dem Geraschel
von Pinie, Silbererle und Olive wuchs ein Unterschied, ein Klang,
der Übersetzung verlangt. Das Meer blieb sich gleich,
[...]«
(8. Sizilianische Suite S. 30f)

Hier wird der topografische Brückenschlag durch das Erinnern hindurch besonders deutlich, wo sich Sizilien und die Karibik im Blau berühren.

Auch wird in diesem Zusammenhang interessanterweise die Übersetzung gleich mit angesprochen. Das Übersetzen von einem Ort zum anderen, von einer Sprache in die andere erscheint zwar einerseits eine weite Reise zu sein, andererseits klingen aber doch in beiden Sprachen, auf beiden Inseln, ähnliche Farben, Stimmungen an, was die Größe einer Übersetzung ausmacht und was die Verantwortung expliziert, auf die Verse in der anderen Sprache eine Antwort zu geben, um sie dem Leser überantworten zu können.

Die Vertiefung in die Texte durch die Problematik lexikalischer Mehrdeutigkeiten und nicht zuletzt der stilistischen Herausforderungen wie Alliterationen und Binnenreime, die eine klangliche Dichte erzeugen und gerade bei Derek Walcotts Lyrik eine tragende Rolle spielen, da die Atmosphäre des Gedichts vor allem durch die Beschreibung der Geräusche einerseits und die klangabbildenden Wortkombinationen andererseits getragen wird, die faktisch nicht übersetzbar sind, erscheint als die große Herausforderung des Übersetzers, der in jedem Fall abwägen, sich durch den Text manövrieren muss. Eine Übersetzung ist immer ein Kompromiss.

Trotz der Farbigkeit durchzieht die späten Gedichte Walcotts immer wieder das Thema der Vergänglichkeit und der Krankheit.

Der elegische Ton ist in den Minizyklen »Weiße Reiher« und »Sizilianische Suite« besonders zu spüren.

Der titelgebende Zyklus explizert die Beobachtung des Tieres. Die mysteriöse Erscheinung wird durch den filigranen Körperbau speziell des Weißen Reihers verstärkt und rückt das Gedicht so ins Geisterhafte, in die Erinnerung und transportiert die Metaphorik des Todes. Reiher sind Mittler zwischen Leben und Vergehen. Dabei ist auch die Schrift eine Übersetzung vom Lebendigen auf das weiße Blatt. So werden an dieser Stelle sprachreflexive Passagen in die Betrachtung mit aufgenommen, wie etwa:

»Accept it all with level sentences,
With sculptured settlement, that sets each stanza;
learn how the bright lawn puts up no defences
against the egret's stabbing questions and the night's answer.«

»Nimm all dies hin im ausgewogenen Satz,
skulpturierte Setzung, jede Stanze an ihren Platz gebracht;
lern, wie die lichte Wiese sich nicht schützt
vor bohrenden Reiher-Fragen und der Replik der Nacht.«
(4. Weiße Reiher S. 12f)

Die Naturbetrachtung wird bei Walcott immer wieder zum Anlass der Reflexion über die Vergangenheit. Die Landschaft wird so zu Andenken, amorphe Chiffre für das zu Erinnernde. Vor allem Vögel wie der Reiher, aber auch die Amsel tauchen zu Anfang der Gedichte wie Botschafter auf. Auch die Landschaft und die Pflanzen werden zu Geheimniswahrern, die die Erinnerung in die Gegenwart tragen. Die Gedichte schreiten diese Erinnerungslandschaften ab, als würde man in einem Aquarell spazieren gehen. Diese Erinnerungslandschaften und Sprachlandschaften sind nicht verblasst, sondern treten auffallend farbenfroh und geräuschvoll aus den Texten hervor, sodass sie aktualisiert werden. Topografisch reichen die Landstriche von der Karibik bis nach Europa, transportiert von Vögeln und Pflanzen.

Die elegischen Töne treten ganz offen in einem Gedicht zutage, das als Selbstgespräch, als Anrede an sich selbst, verfasst ist und so eine kontrastierende Direktheit transportieren:

»What? You're going to be Superman at seventy-seven?
Got your weight down? Okay. You've lost seven pounds,
but what you've also lost is belief in heaven
as dear friends die. [...]«

»Wie? Du willst Superman werden mit siebenundsiebzig?
Hast dein Gewicht runter? Na schön, sieben Pfunde
verloren, und auch der Himmelsglaube verliert sich
jetzt, wo deine Freunde sterben.«
(Gedicht Nr. 23 S.102f)

Die schonungslose Reflexion über die eigene Vergänglichkeit, über Alter und Krankheit wird jedoch am Ende des Gedichts mit den wunderbar hoffnungsreichen und beflügelnden Versen aufgelöst, sodass der Eindruck entsteht, dass die Gedichte auch den Versuch darstellen, sich ihre eigene Erlösung herzuschreiben, schreiben sich quasi einen Ausweg aus der Krankheit mithilfe der Natur als Arznei.

»early in the morning to avoid the sun; fear melts
before daylight's beauty, despite all that coughing.«

»frühmorgens schwimmen, meide die Sonne; Angst taut
an der Schönheit des Tageslichts, trotz all dem Gehuste.«
(ebd.)

Exemplarisch ist diese Konzentration von Bedeutung und Stil bei Walcott im Gedicht Nr. 3 gut illustrierbar, bei dem Hafenarbeiter bei der Arbeit beschrieben werden. Gleichzeitig handelt es sich hier um eine besonders prägende Erfahrung, da es sich um erste Kindheitserinnerungen handelt.

»This was my early war, the bellowing quarrels,
at the pitch of noon, of men moving cargoes
while gulls screeched their monotonous vowels
in complex curses without coming to blows;
muscular men swirling codfish barrels
and heaving rice bags, who had stunted nicknames,
[...] At lunch they ate in the shade
of mountainous freight bound with knots an cinches,
ignoring the gulls with their boulders of bread.«

»Dies war mein früher Krieg: das brüllende Gestreite
von Männern, die im höchsten Mittag Frachten luden,
während die Möwen monoton ihre Vokale kreischten,
nie bis zur Schlägerei, verwickte Flüche fluchend;
sehnige Männer, ließen Stockfisch-Fässer fliegen,
stemmten Reissäcke, hörten auf rudimentäre Namen
[...] Brotzeit machten sie im Schatten
gewaltiger Ballen, verzurrt mit Knoten und Gurten,
nahmen keine Notiz von den Möwen, mampften Brote in Riesenbrocken.«
(Gedicht Nr. 3, S. 10f)

Von Koppenfels übersetzt in Vers 6 des Gedichts nicknames mit rudimentäre Namen, da Spitznamen Rudimente, Abkürzungen der eigentlichen Namen seien, erklärte er im Lyrik Kabinett, und sich durch den Mangel etwas Abgebrochenes zeigt, eine Verwundung des Namens. Dies scheint eine Präfiguration auf die spätere Verstümmelung eines der Hafenarbeiter zu sein, der, wie man am Ende des Gedichts erfährt, an einer Krankheit leidet und so in die Verstümmelung seines eigenen Namens durch das Schicksal eingepasst zu werden scheint, mit einem Fuß eintritt, den er wirklich verliert.

Dies allerdings ist trotz dieser Absicht im Grunde eine zu diskutierende Interpretation, eine durch den Übersetzer getroffene Entscheidung und legitimiert sich allein dadurch, dass der Band auch das Original zugänglich macht. So erscheinen zweisprachige Ausgaben als die einzig sinnvolle Art, fremdsprachige Gedichte zu publizieren und erzeugt zudem einen höheren Freiheitsgrad der Übersetzung und durch diese Gegenüberstellung eine Bereicherung für die Interpretation der Gedichte. 

Die Übersetzungsarbeit dieser anspruchsvollen Gedichte erscheint besonders komplex, wenn sich neben lexikalischen und stilistischen Problemen auch die sprachreflexive Ebene wiederfindet.

So entstehen beispielsweise durch Mehrdeutigkeiten innerhalb der englischen Sprache Bezüge, die bei der Übersetzung unweigerlich verloren gehen müssen.

Das letzte Gedicht (Nr. 54) thematisiert als Kulmination des gesamten Bandes, als eine Art Schlusswort, die Insel selbst und parallelisiert dabei Landschaft und die Tätigkeit des Sprechens. Diese Engführung macht beispielsweise das Setzen des Wortes line, dessen Bedeutung zwischen Inhalt (Bild) und Form (Abstraktion) oszilliert, deutlich und ist ins Deutsche in seiner Mehrdeutigkeit nicht übertragbar. Das englische Substantiv line bezeichnet einerseits die Anglerschnur und gleichzeitig die Zeile.

An solchen Stellen kommt die Übersetzung unweigerlich an die Grenzen ihrer Transportmöglichkeiten. Man setzt von einer Sprachlandschaft in die andere über, manövriert landscape und language, die sich in der Übersetzung gleichermaßen wiederfinden soll und die Gleichzeitigkeit, in der auch Echos poetischer Zitation mitschwingen, kann höchstens in einen kritischen Apparat oder in Fußnoten gebannt werden.

Der Zusammenhang zwischen language und landscape, Sprache und Landschaft ist im Besonderen auf virtuose Weise in diesem Gedichtband miteinander verschränkt. Mit diesem letzten Gedicht zeigt sich der sprachreflexive Bezug bei Walcott als gewollter Abschluss des Bands. Sich das Ende selbst herschreibend, sei das an dieser Stelle letzte Gedicht hier in Gänze vorgestellt:

»This page is a cloud between whose fraying edges
a headland with mountains appears brokenly
then is hidden again until what emerges
from the now cloudless blue is the grooved sea
and the whole self-naming island, its ochre verges,
its shadow-plunged valleys and a coiled road
threading the fishing villages, the white, silent surges
of combers along the coast, where a line of gulls has arrowed
into the widening harbour of a town with no noise,
its streets growing closer like print you can now read,
two cruise ships, schooners, a tug, ancestral canoes,
as a cloud slowly covers the page an it goes
white again and the book comes to a close.«

»Die Seite hier ist eine Wolke: hinter dem fransigen Saum
springt umrißhaft mit Bergen eine Landzunge vor
und schwindet wieder und was dann aus wolkenlosem Blau
auftaucht, ist das geriefte Meer
und die ganze sprechend benannte Insel, ocker gefaßt,
die Täler in Schatten getaucht, eine gewundene Straße
fädelt die Fischerdörfer auf, still brandet es weiß
die Küste entlang, wo lautlos ein Möwenzug seinen Pfeil
nach dem sich öffnenden Hafen der Stadt abschießt,
ihre Gassen kommen näher wie die Zeilen, die du liest,
zwei Kreuzfahrer, Schoner, ein Schlepper, althergebrachte Kanus,
während die Wolke langsam die Seite bedeckt und sie
wird wieder weiß und das Buch kommt zum Schluß.«
(Gedicht Nr. 54, S. 166f)

Derek Walcott
Weiße Reiher
übersetzt von Werner von Koppenfels
Hanser
2012 · 184 Seiten · 17,90 Euro
ISBN:
978-3-446-23867-1

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