Kritik

Frecher lieber Onkel

Cummings' Märchen in der Edition textura
Hamburg

In der Beck’schen Edition textura ist soeben ein neuer Band von E. E. Cummings wieder aufgelegt worden, „Fairy Tales Märchen“, 2010 erstmals bei Beck herausgekommen, aber bereits 1971 im Verlag Langewiesche-Brandt erstveröffentlicht. Schon zuvor wurde in der Edition einiges von ihm editiert: „like a perhaps hand“, „erotic poems“ und „Poems“, letzterer ein Klassiker unter seinen Werkquerschnitten, schon 1958 erstmalig kongenial von Eva Hesse ins Deutsche übertragen, der Übersetzerin u. a. auch T. S. Eliots, Marianne Moores und Ezra Pounds. In diesem Klassiker finden wir die unsterbliche Schöpfung

the poems to come
are for you and for me
and are not for
mostpeople

die gedichte hier
sind für dich und für mich
für meisteleute
sind sie nichts

Im Gegensatz zu den einfarbig gehaltenen Bänden der Edition vor einem halben Jahrzehnt wirken die bunt gestreiften Einbände der Reihe textura heute ein wenig bieder, erinnern an die grassierenden Verjüngungsversuche bei den Verlagskollegen von Reclam oder Kröner und Konsorten in letzter Zeit – aber das sind nur Äußerlichkeiten, und wenn man sowieso nicht drauf aus ist, Auszeichnungen für Buchkunst entgegen zu nehmen, so können wir uns getrost dem Inhalt zuwenden, der hier folgerichtig im Vordergrund steht (warum auch nicht?) und – das vorweg – der ziemlich gelungen ist.

Edward Estlin Cummings war ein frecher Autor. Jemand, der sich nie gescheut hat, aus der Hüfte zu feuern. Jemand, der mutig umgekrempelt hat, was ihm sprachlich zu eng war, einem Ernst Jandl nicht unähnlich. Die „Fairy Tales“ sind ein Frühwerk von ihm. Sie sind wohl aus improvisierten ad-hoc-Spielereien des kaum Dreissigjährigen für seine junge Nichte entstanden. Damals veröffentlichte Cummings vieles, Roman, Dramen und Gedichtband um Gedichtband, und ritt die modernistische Welle mit ausgedehnten Reisen, Paris-Aufenthalten und Picasso-Bekanntschaft. Dass er sich mit den Fairy Tales explizit an ein Kinderpublikum wandte, ist für avantgardistische Autoren nichts Ungewöhnliches – siehe Friederike Mayröcker, Ted Hughes und andere. Es ändert eigentlich auch nichts: Die Texte sind mit Sicherheit kindertauglich (Gerstenberg hat die Auskopplung Der Elefant und der Schmetterling bereits 2013 herausgebracht), sie sind aber genauso tauglich für „große Kinder“.

Neben ihrem inhaltlichen, narrativen Vorgehen und allem, was damit zusammenhängt, sind sie formal hundert Prozent Cummings, also gewagt, überraschend und eben frech. Damit einher geht ein Problem, nämlich das der Übersetzbarkeit. Zum Glück ist die Edition textura in ihrer Kernkompetenz zweisprachig. Denn die gewiss verdiente und ehrbare Übertragung von Hanne Gabriele Reck, die, wie es im Klappentext heißt, Cummings noch persönlich kennengelernt hat, ist auf eine eigentümliche Weise spießig geraten. Der Ton ist einfach nicht getroffen. Es soll nicht in Abrede gestellt werden, dass jede Übersetzung eine eigene Poetologie aufweist und hier mit Sicherheit auch eine solche qua Entscheidung angewendet worden ist, aber es bleibt doch einzuwenden, dass, bei auch nur flüchtigem Blick auf das Original, Cummings „Fairy Tales“ sprachlich gesehen rein gar nichts mit gebräuchlicher Fairy-Tale-Sprache von Walter Scott bis Joseph Jacobs zu tun haben. Im Gegenteil: Cummings spielt mit der sagenhaften Vokalität und den Einsilb-Sprechakt-Möglichkeiten des Englischen, die im Deutschen schwierig zu reproduzieren sind, indem er Kurzwörter so oft wiederholt und reiht (oft Versatzstücke, die man tatsächlich aus märchenhaften Texten wiederzuerkennen glaubt), dass ihm der Text in eine teilweise aberwitzige Hüpferei gerät:

and up up up up up she flew, so much up she flew…

Es sind, sprachlich gesehen, Anti-Märchen beziehungsweise Verballhornungen und Übertreibungen bis hin zur Parodie. Am stärksten ist das im letzten Text „The little girl named I“ zu sehen. Dieser besteht aus einem beinahe quatschigen Dialog zwischen einem bornierten, englischen, also insel-englischen, adlig-tümelnden posh-Erzähler – ja, man spürt geradezu, wie der Amerikaner Cummings diebisch erfreut in eine Supermutation aus Oscar Wilde, Aubrey Beardsley, Preraffaeliten und Lord Strange etc. schlüpft und sich beim Imitieren und Quacksalbadern selbst halb totlacht – und einem einfaltspinseligen Frager. Was sie beiden erzählen, ist die Geschichte des kleinen Mädchens namens Ich auf der Suche nach einem Kameraden zum Teetrinken, wie es absolut konsequenterweise an ein Gegenüber namens Du gerät.

Zum ersten Text in dem Band, „The old Man who said ‚Why?‘“, bliebe vielleicht noch zu sagen – und es liegt mit an der Übersetzung – dass er infolge der darin erzählten Planetenreise mitsamt den schrägen Planetenbewohnern und Kinds-Evokationen ein Wenig ins Fahrwassers von „Der kleine Prinz“ zu geraten droht. Davon soll man sich aber nicht beeinflussen lassen. „The Elephant & the Butterfly“ und „The House that ate Mosquito Pie“ sind anrührend einfache und zärtliche feel-good Texte, aber auch sie wollen mit den angesprochenen Sprachvexierspielen auf mehrdeutige Verständnisweisen hinaus und sind solcherart wesentlich komplexer, als es eine rein inhaltliche Rezeption zunächst vorgaukelt.

Nachfolgend ein Beispiel für die scharfe Sprachverdichtung Cummings‘ im Original und ihr verlorengegangener Ton in der Übersetzung:

He flew all night and he flew millions and millions and millions of miles; and at last (just toward morning) he saw the moon away off, looking no bigger than a penny; but as he flew toward it, it got bigger and bigger and bigger until he could see it clearly; and finally, flying very hard, he came to the very edge of the moon. And then he saw a high rock, right on the very edge of the moon, and on the top of this rock there was a tall church, and on the top of this church there was a slender steeple, and away up – right at the very top of this steeple – there was sitting a very very very very very very very old man with little green eyes and a big white beard and delicate hands like a doll’s hands. And this little old man never moved and sat all by himself looking and looking and looking at nothing.

Er flog die ganze Nacht und er flog Millionen und Millionen und Millionen Meilen; und endlich (gerade gegen Morgen) sah er den Mond in der Ferne, zuerst nicht größer als einen Pfennig; aber als er auf ihn zuflog, wurde er größer und größer und größer, bis er ihn ganz deutlich sehen konnte; und schließlich, als das Fliegen ihm schon viel Mühe machte, kam er am äußersten Rand des Mondes an. Dann sah er einen hohen Felsen, gerade am äußersten Rand des Mondes, und auf der Spitze des Felsens stand eine hohe Kirche, und oben auf der Kirche war ein schlanker Kirchturm, und ganz oben – auf der allerobersten Spitze des Kirchturms – saß ein sehr sehr sehr sehr sehr sehr sehr alter Mann mit kleinen grünen Augen und einem großen weißen Bart und zarten Händen wie von einer Puppe. Dieser kleine Mann bewegte sich kein bisschen und saß ganz allein da und schaute und schaute und schaute auf gar nichts.

Gelungen dafür das schwierige Ende von The little girl named I:

And then I said to this other little girl, just like this I said „Who are you?"
And what did this other little girl say?
“You. That’s who I am” she said “And You is my name because I’m You.”
I suppose this little girl named I was surprised?
I was ever so surprised.
And what happened then?
Then I said to You “Would you like to have some tea?” I said. And You said “Yes. I would”
You said. So then You and I, we went to my house together to have some tea and then we had some fine hot tea I suppose and some delicious bread and butter too, with lots and lots and lots of jam. – And that’s the end of this story.

Und dann sagte Ich zu dem kleinen anderen Mädchen – Ich sagte nur einfach „Wer bist du?“
Und was sagte das andere keine Mädchen?
„Du. Das bin ich“ sagte es. „Du ist mein Name, weil ich Du bin.“
Das kleine Mädchen namens Ich war wohl erstaunt?
Ja, Ich war wirklich erstaunt.
Und was geschah dann?
Dann sprachen Ich und Du. Erst Ich „Möchtest du Tee trinken?“ – dann Du „Ja, gern.“ Und so gingen Du und Ich zusammen zu meinem Haus, um Tee zu trinken, und da bekamen wir guten heißen Tee, jawohl und köstliches Brot mit Butter und dazu ganz ganz ganz viel Marmelade. – Und das ist das Ende von der Geschichte.

E.E. Cummings war seiner Zeit voraus. Er scheint dies auch noch heute zu sein und führt einmal mehr die Grenzen von adäquater Übersetzung vor Augen, die sich aus einer Möglichkeitsfülle zu entscheiden hat, dabei mit Verlusten umgehen muss und sie mit angemessenen, mutigen Interventionen kompensieren darf bzw. sollte. Dies ist bei den „Fairy Tales“ der Pferdefuß, denn mutig ist diese Übersetzung von Hanne Gabriele Reck nicht. Schön ist sie trotzdem. Aber das Original gewinnt. Beides wird in der Edition textura vorgeführt und hoffentlich mit vielen weiteren Bänden der Reihe fortgeführt.

E.E. Cummings
Fairy Tales
Märchen
Übersetzung:
Hanne Gabriele Reck
Linolschnitte: Ludwig Arnold
C. H. Beck
2016 · 63 Seiten · 12,95 Euro
ISBN:
978-3406696701

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