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Kritik

Was uns umgibt

Hamburg

Wir sind nicht verpflichtet, irgendetwas zu tun, nur weil uns jemand sagt: „Tu dies“ oder „Tu das“, selbst dann nicht, wenn es sich als klüger herausstellen sollte, ihm Folge zu leisten, weil er einen Revolver auf uns richtet.

Die Natur des Rechts, S. 108 Quelle: citizenphilosophy.net

Die Rechtsphilosophie macht so etwas wie das uneingestandene Zentrum der politischen Theorie und Philosophie der Gegenwart aus. Auch wenn nicht alle Theoretikerinnen und Theoretiker explizit eine solche entwickelt haben, nehmen sie doch auf die eine oder andere Weise darauf Bezug, wie zum Beispiel Karl Marx im Grunde die Grundzüge seiner Theorie in Auseinandersetzung mit der Hegelschen Rechtsphilosophie entwickelte und dann erst den Bogen zur Ökonomie bekam. Das ist insoweit nachvollziehbar, als dass uns die gesellschaftliche Macht einerseits als Rechtliche und andererseits als ökonomische Struktur begegnet. Formalisiert erscheint sie uns aber vor allem als Ensemble von Vorschriften und Gesetzen. Nicht zuletzt ist das der Grund, warum ich mir den Band Voegelins zur Rezension bestellt habe. Die Natur des Rechts verspricht dem Titel nach eben jenem Phänomen auf dem Grund zu gehen.

Das Gemeinwesen, in dem ich mich für gewöhnlich aufhalte und das sich auf eine sehr holprige Art anschickt, sich mit anderen europäischen Staaten zu vereinigen, befindet sich in einem Umbruch, dessen Ende und Ausgang noch nicht abzusehen ist; dass es aber in irgendeiner Form zu einem vereinten europäischen Staat kommen wird, scheint mir unvermeidlich.

Um diesen Prozess zu verstehen, denke ich, ist die Lektüre von Büchern, wie dem Voegelins äußerst hilfreich, auch wenn das Werk natürlich nicht konkret auf die Europäische Vereinigung abzielt. Es ist in den Vereinigten Staaten entworfen worden, wohin der Autor 1938 emigrierte und lehrte, bevor er ab 1958 die Professur für Politische Wissenschaft am Münchener Geschwister-Scholl-Institut innehatte. Nach Beendigung seiner Lehrtätigkeit 1969 kehrte er in die Vereinigten Staaten zurück. Im Vorsatz erfahren wir, dass es sich bei der Urschrift von Die Natur des Rechts um eine provisorische Ausgabe von 1957 gehandelt hat , ausschließlich für den privaten Gebrauch der Hörer im Kurs Law 112 an der Louisiana State University Law Shool bestimmt.

Zuerst ist einmal zu sagen: ich habe bei der Lektüre viel gelernt, und das ist auch dem Herausgeber Thomas Nawrath zu verdanken, der den ganzen Text übersetzt, umfangreich kommentiert  und ein Nachwort beigesteuert hat, das für mich zumindest gleichbedeutend mit Voegelins Text ist. Hier zeigt er die Genesis des Voegelinschen Denkens auf, der wie Nawrath selbst schreibt, als „merkwürdig und dunkel“ gilt. Das Spannende ist, wie sich im Verlauf der Lektüre die Dunkelheit verliert, wie man mit Nawraths Hilfe auf Bruchstellen im Werk trifft, auf Merkwürdigkeiten, die eine enorme Denkenergie freisetzen.

Voegelin erfährt, kann man sagen, seine theoretische Sozialisation im deutschsprachigen Europa am Anfang des vergangenen Jahrhunderts, grob gesagt zwischen dem vorherrschenden Neukantianismus, hier vor allem beeinflusst durch den österreichischen Staatsrechtler Hans Kelsen und dem eher Katholisch autoritären Carl Schmitt. Mit Schmitt sollte er einige der wesentlichen Vorbehalte gegen eben den Neukantianismus  teilen. Eine rein formalistische Rechtsphilosophie scheint ihm zu wenig zu sein. Allerdings geht er nicht wie Schmitt in eine antidemokratische Richtung, der die Akklamation mehr gilt als die rationale Entscheidung.

Entscheidende Anregung erfährt er nicht zuletzt in den Vereinigten Staaten, weil es sich dort um einen verhältnismäßig jungen Staat handelt, dessen Genesis noch unverschüttet und klar zu Tage liegt. Faszinierend ist auch die integrative Kraft der der Demokratie dort, von der auch Voegelin ergriffen wird. Er spricht, obwohl eingewandert, fast emphatisch, von „unserem“ Recht. Das würde ich mir für Europa auch wünschen, ein Rechtssystem, mit dem man sich auf eine gewisse Art identifizieren kann. Und dabei geht Voegelin nicht davon aus, dass es bis ins letzte einfach und leicht verständlich ist, was auch angesichts der Komplexität des Gemeinwesens eine sehr populistische Forderung wäre, sondern weist auf die besondere Funktion der Anwaltschaft hin, zwischen Bürger und Recht zu vermitteln. Vor diesem Hintergrund erscheinen die zahllosen amerikanischen Gerichtsfilme noch einmal in einem ganz anderen Licht. Aber derlei Filme sind natürlich nicht Gegenstand der Vorlesung.

Voegelin macht in der vorliegenden Schrift Verschiedenerlei: einerseits untersucht er Vorstellungen, die sich in der Alltagsrede über das Recht sedimentiert haben und führt sie mit philosophischen Rechtsvorstellungen und ihrer Geschichte eng. Dabei  gelingen zuweilen  äußerst instruktive Kurzreferate über z.B. die Geschichte der Rechtsvorstellungen. Und auf der anderen Seite geht er analytisch vor und beleuchtet Begriffe wie Geltung, Regel, Norm und Repräsentation. Im vorletzten Kapitel: Die apersonale Geltung von Rechtsregeln entwirft Voegelin eine Theorie von der Gesellschaft als einer sich selbst organisierenden Entität und kommt damit, was mich sehr überrascht hat, in die Nähe Luhmannscher Theoriebildung.

Die „Natur des Rechts“ ist eine Vorlesung die Voegelin in den 50ziger Jahren in den USA gehalten hat und die von Thomas Nawrath ins Deutsche übertragen und Reich kommentiert wurde. Allein der Titel hätte mich während meines Philosophiestudiums Anfang der Neunzigerjahre abgeschreckt. Zumal Voegelins Text auf Folgendes hinausläuft:

„Nichtsdestoweniger bleibt die Beziehung der drei Autoritäten, der Macht, der Vernunft und der Offenbarung von allererster Wichtigkeit, wenn es um die Verwirklichung der wahren Ordnung in der Gesellschaft geht, sobald sich die normativen Autoritäten aus dem Mythos ausdifferenziert haben. Man könnte mit etwas Vorsicht formulieren, dass die Balance dieser drei Autoritäten die Bedingung der wahren Ordnung der westlichen Zivilisation darstellt."

Wir verstanden uns damals als linke Antiessentialisten, und jede Theorie, die einem unserer Meinung nach gesellschaftlich Produzierten eine Natur, eine bleibende Substanz oder Ähnliches unterstellt, galt uns als schändlich.Ich bin sehr froh, diese eher anstrengende Position überwunden zu haben und mich in der Lage zu finden, Bücher wie das vorliegende wertzuschätzen, zumal es wunderbar editiert wurde. Auch wenn mich das abrupte Einsickern eines quasi religiösen Dogmas in den Text nach wie vor wundert.

„Eine Untersuchung der Natur des Rechts ist mit Argwohn gegenüber ihrer Machbarkeit belastet, da die klassischen Philosophen, Platon und Aristoteles, gar keine Rechtsphilosophie kannten.“ So beginnt denn auch Voegelins Prolog und weist in eine ganz andere Richtung des Unbehagens. Er spielt damit auf eine gewisse Autoritätshörigkeit der Universitäts- und Schulphilosophie an, wie ich sie in Frankfurt nicht kennengelernt habe, wie ich sie mir aber aufgrund der Verschulung des Studiums im Zuge der Bachelorumstellung gut vorstellen kann. Beschränkung der Zeit ist eine äußerliche Beschränkung von Freiheit, und in dem Maße, wie sie jetzt an europäischen Universitäten stattfindet, mit einem Philosophiestudium, dessen Gegenstand ja im Grunde die Freiheit ist, nicht zu vereinbaren.

Zum Abschluss noch ein Plädoyer: Das alles klingt sehr theoretisch, und ist es wohl auch. Es scheint so, als bräuchte man jede Menge Vorbildung, um das Buch zu verstehen usw. Das mag alles sein, aber irgendwo sollte man anfangen und, auch wenn einiges „merkwürdig und dunkel“ bleibt,  so ergreift einen doch hin und wieder etwas, das an anderer Stelle „das Glück der Erkenntnis“ genannt wurde. Das wiegt das Merkwürdige und das Dunkle allemal auf.

Eric Voegelin
Die Natur des Rechts
Übersetzung:
Thomas Nawrath
Annmerkungen und Nachwort: Thomas Nawrath
Matthes & Seitz Berlin
2012 · 220 Seiten · 24,90 Euro
ISBN:
978-3-882216172

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