Ohne Worte – deutsche Autoren und der Erste Weltkrieg
Die Erinnerung an den Kriegsausbruch 1914 hat ihren ersten Höhepunkt erreicht. Am 28. Juli war es genau ein Jahrhundert her, dass Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärte. Was danach geschah, lässt sich derzeit in unzähligen neuen Publikationen nachlesen. Die Feuilletons überschlagen sich, und jeder Kulturdezernent, der etwas auf sich hält, hat in seiner Stadt eine Erste-Weltkriegs-Ausstellung auf die Beine gestellt. Selbst Parteien und Bundestagsfraktionen veranstalten Fachanhörungen und Podiumsdiskussionen, die sich mit den Ereignissen der Jahre 1914-1918 beschäftigen. Und jedes politische Ereignis zwischen Kiew und dem südchinesischen Meer wird derzeit von den Auguren der Zeitdiagnostik (oder denen, die sich dafür halten) in Analogie zur Lage Europas vor 1914 gesetzt. Am Motto der Zeitungsmacher des 19. Jahrhunderts, demnach Krieg oder auch nur die Androhung eines solchen die Auflagenzahlen in die Höhe treiben, scheint sich bis heute nichts geändert zu haben.
War sells! Das haben auch die Verlage erkannt und ihre Programme auf das mediale Großereignis ausgerichtet. Die Flut der Bücher über den Ersten Weltkrieg lässt sich längst nicht mehr überblicken. In den kommenden vier Jahren werden noch etliche Regalmeter hinzukommen. Sieht man sich die Neuerscheinungen jedoch etwas genauer an, fallen nationale Besonderheiten ins Auge. Dabei geht es nicht so sehr um die Bewertung des Krieges oder der Kriegsschuldfrage an sich, als vielmehr um die Frage, wer sich mit den Ereignissen der Jahre 1914 bis 1918 auseinandersetzt.
So ist in Deutschland der Erste Weltkrieg fest in der Hand der Fachgelehrten. Die Bücher von Christopher Clark („Die Schlafwandler“), Herfried Münkler („Der Große Krieg“) und Jörn Leonhard („Die Büchse der Pandora“) haben es allesamt – für wissenschaftliche Publikationen keine Selbstverständlichkeit – auf die Bestsellerlisten geschafft. Obwohl Clark gebürtiger Australier ist und in Großbritannien lehrt, hat sein Buch, das die Frage der Verantwortung der Staaten am Kriegsausbruch beleuchtet, nirgendwo eine vergleichbare Rezeption erfahren wie hierzulande. Kein Wunder, kommt Clark doch zu dem Ergebnis, dass Deutschland nicht mehr und nicht weniger für den Kriegsausbruch verantwortlich gewesen sei als die anderen europäischen Großmächte; wenn überhaupt einem Staat die Hauptverantwortung zugeschrieben werden müsse, so erfährt man bei Clark, dann Serbien.
Die zeitgenössische Belletristik hingegen meidet den Ersten Weltkrieg. Darin unterscheiden sich deutsche Autoren von ihren Kolleginnen und Kollegen in anderen europäischen Ländern. Um trotzdem ein Stück vom Kuchen der Weltkriegserinnerung abzubekommen, sind zahlreiche Verlage dazu übergegangen, Romane der 1920er Jahre neu aufzulegen. Das ist nicht sonderlich innovativ. Dennoch lassen sich so einige lesenswerte Entdeckungen machen, die über den hinlänglich bekannten Erste-Weltkriegs-Kanon aus Erich Maria Remarque, Ernst Jünger und Arnold Zweig hinausreichen.
Zum Beispiel „Schlump“, aus der Feder von Hans Herbert Grimm, veröffentlicht – unter Pseudonym – im Jahr 1928. Der Roman braucht den Vergleich mit Jaroslaw Haseks „braven Soldat Schwejk“ nicht zu scheuen. Für Schlump, der seinen Spitznamen einem brüllenden Schutzmann verdankt, der ihn in Kindertagen in einer Kreuzung aus Spitzbube und Lump als „Schlump“ titulierte, bevor er ihm eine ordentliche Tracht Prügel verpasste, beginnt der Krieg alles andere als dramatisch. Wegen seiner Sprachkenntnisse wird er 1914 in der kleinen französischen Gemeinde Loffrande als eine Art Ortsvorsteher eingesetzt. Seine Tage verbringt der Siebzehnjährige damit, unwichtige Meldungen abzusetzen und die Mädchen des Dorfes zu verführen. Leider lässt sich dieses Idyll nicht auf Dauer beibehalten. Im Sommer 1915 wird Schlump an die Front versetzt. Dort beginnen auch für ihn die Grauen des Schützengrabens. Doch Schlump hat Glück. Während um ihn herum die Kameraden reihenweise fallen, überlebt er das Gemetzel. Vom Krieg aber, für den er sich 1914 freiwillig gemeldet hatte, ist er enttäuscht. Nichts als Dreck, Gestank, Langeweile und Tod. Und meilenweit keine Gelegenheit für die ersehnte Heldentat. Das vermeintliche Kriegserlebnis hat sich als Illusion erwiesen, als „gräßliche, gemeine Schlächterei“.
Eine weitere Entdeckung ist der Roman „Jahrgang 1902“, erstveröffentlicht ebenfalls 1928. Sein Autor, der damals 26-jährige Ernst Glaeser, avancierte mit dem Buch über Nacht zu einer wichtigen literarischen Stimme der Weimarer Republik. Ein Jahr nach Erscheinen lag die Auflage bei 200.000 Exemplaren, Übersetzungen in 20 Sprachen folgten. Allerdings gelang es Glaeser nie, an den frühen Erfolg anzuschließen; heute ist der Autor weitgehend vergessen.
Zu Unrecht, wie das Buch zeigt. Anders als Grimm und vielen anderen geht es Glaeser nicht um die direkte Erfahrung des Krieges in den Schützengräben, sondern um die Perspektive derjenigen, die, da knapp zu jung um eingezogen zu werden, die Auswirkungen des Krieges in der Heimat miterlebten. Die Handlung, in einer nicht näher bestimmten südwestdeutschen Kleinstadt angesiedelt, setzt unmittelbar vor Kriegsausbruch ein. Es zeichnen sich die Konfliktlinien des späten Kaiserreichs ab. Links versus rechts, arm versus reich, und allgegenwärtig das Geschwür des Antisemitismus. Das Buch erinnert bisweilen an Heinrich Manns Roman „Der Untertan“, der mit den Vorzeichen des drohenden Krieges endet. Glaeser spinnt den Faden weiter. Der Krieg liefert die zeitweise Fiktion einer geeinten Gesellschaft, die keine Klassen, Parteien oder Konfessionen mehr zu kennen scheint. Doch das erweist sich rasch als Trugschluss. Noch während des Krieges brechen die oberflächlich zugeschütteten Gräben wieder auf. Während die Männer in den Schützengräben liegen, entsteht zu Hause die Heimatfront – gegen die Obrigkeit sowie die „Entente der Feldgendarme und Kontrolleure“, deren Macht sich zumeist auf die Zuteilung der Lebensmittelkarten gründet. Hinzu kommt, dass man selbst in der Heimat nicht länger vor den physischen Schrecken des Krieges sicher ist. Gegen Ende des Krieges dringen feindliche Flieger bis in den Südwesten des Landes vor – und erschießen Anna, die Freundin des Ich-Erzählers. Die frühzeitige Prophezeiung des „roten Majors“, Gegenspieler des kriegsbegeisterten alldeutschen Lehrers Brosius, wird Wirklichkeit: Der Krieg ist nicht zu gewinnen. Und er zerstört nicht nur das Leben der Alten, sondern auch die Zukunft der Jungen.
„Jahrgang 1902“ hat den Nerv seiner Zeit- und Altersgenossen getroffen. Glaeser hat denen eine Stimme verliehen, die nicht direkt an den Kämpfen teilgenommen hatten, deren weiteres Leben aber dennoch tiefgreifend vom Krieg geprägt war. In Erich Kästners ebenfalls 1928 veröffentlichtem Gedicht vom „Jahrgang 1899“ findet sich am Ende eine hellsichtige Ankündigung, die als kaum verhohlene Drohung gelesen werden muss: „Dann zeigen wir euch, was wir lernten!“ Der Satz ließe sich als Motto auf Glaesers „Jahrgang 1902“ übertragen.
Während in Deutschland derzeit vor allem Bücher der 1920er Jahre neu aufgelegt werden, erscheinen anderswo in Europa auch neue literarische Arbeiten über die Zeit des Ersten Weltkrieges. Etwa das kürzlich im Steidl Verlag auf Deutsch veröffentlichte Buch des irischen Romanciers Sebastian Barry, „Ein langer, langer Weg“, über die Kriegserfahrungen des irischen Gefreiten Willie Dunne in den Schützengräben der Westfront. Und auch in Frankreich arbeiten etliche Autoren 100 Jahre nach Kriegsausbruch an einer zeitgemäßen literarischen Darstellung des „Grande Guerre“.
Einer von ihnen ist Jean Echenoz, Gewinner des renommierten Prix Goncourt 1999. Er hat mit „14“ (Hanser Verlag) einen Roman vorgelegt, der in der Klarheit seiner Handlung und Sprache an das großartige Buch „Den Teufel im Leib“ von Raymond Radiguet aus dem Jahr 1923 erinnert (die deutsche Übersetzung stammt übrigens in beiden Fällen von Hinrich Schmidt-Henkel). Im Mittelpunkt stehen bei Echenoz fünf Freunde, die 1914 gemeinsam in den Krieg ziehen: Die Brüder Anthime und Charles, die beide eine Beziehung mit der schönen Blanche unterhalten, die wiederum ein Kind von einem der beiden erwartet; außerdem der Sattler Arcenel, der Abdecker Bossis und der Metzgergeselle Padioleau. Als ersten erwischt es ironischerweise den abgeklärten Charles. Ironischerweise deshalb, da dieser sich bei Kriegsbeginn über persönliche Seilschaften der Luftwaffe hatte zuteilen lassen, die damals noch als ungefährlich galt. Nun gehört er, im Luftkampf vom Himmel geschossen, zu den ersten Toten des modernen Krieges. Ein weniger heldenhaftes Ende findet Arcenel; er wird kurzerhand als Deserteur hingerichtet. Bossis stirbt im Schlamm des Schützengrabens den klassischen Tod des Weltkriegssoldaten, während Padioleau den Krieg zwar überlebt, fortan aber, vom Gas erblindet und traumatisiert, von der Hand der Mutter geführt werden muss. Mehr Glück – sofern man das so nennen kann, aber damals wurde es wohl so gesehen – hat einzig Anthime. Ein Granatensplitter trennt ihm „ohne weiteres Wenn und Aber dicht unter der Schulter den rechten Arm glatt vom Leib.“ Damit ist der Krieg für ihn vorüber. Zu Hause bringt Blanche einen Sohn zur Welt – sie nennen ihn Charles.
Echenoz‘ Erzählung umfasst gerade einmal 124 Seiten. Dennoch gelingt es ihr, die Schrecken des Krieges nachfühlbar zu erfassen – vom Elend der Gräben, über die gelben Schwaden der Gasangriffe bis hin zu den Ungerechtigkeiten, die für den einfachen Gefreiten trotz der allgegenwärtigen Todesgefahr von einer unmenschlichen Kriegsverwaltungsbürokratie ausgingen.
Ein gänzlich anderes Buch hat Éric Vuillard mit seiner „Ballade vom Abendland“ geschrieben. Wo Echenoz auf Kargheit des Stils und klar Darstellung setzt, wählt Vuillard bedeutungsschwere Metaphern. Die „Dicke Bertha“, ein 42-cm-Mörser des deutschen Heeres, ist für ihn Synonym eines modernen Krieges, der von den europäischen Eliten gezielt herbeigeführt wurde. Exemplarisch verkörpert wird die Kriegsmaschinerie durch Alfred Graf Schlieffen, Verfasser des Schlieffen-Plans, mit dem verhindert werden sollte, dass das Deutsche Reich im Zweifrontenkrieg mit Frankreich und Russland aufgerieben werde. Das Vorhaben schlug bekanntlich fehl. Der neue Krieg hatte sich von der alten Zeit gelöst und verfolgte fortan seine eigenen Regeln. Die Anarchie des Neuen ist es, die Vuillard in seinem Buch einfangen möchte. Gelingt ihm das? Schwer zu sagen. Man weiß nicht so recht, womit man es bei seiner „Ballade vom Abendland“ zu tun hat. Fiktion, Geschichte, fiktive Geschichte oder doch Geschichtsphilosophie? Vuillard versucht, die Neuartigkeit des Krieges, der Zerstörung und des menschlichen Leids in eine neue Form des Erzählens zu gießen. Tatsachen und Gräuelnachrichten – etwa die verlustreichen Grenzschlachten mit ihren hunderttausenden Toten – setzt er in Verbindung mit früheren und späteren Ereignissen in der Geschichte. Während in Hiroshima durch eine einzige Bombe 75.000 Menschen ums Leben kamen, fielen an drei Tagen im August 1914 rund 40.000 Soldaten. Dennoch, so Vuillard, war der 22. August 1914 mit seinen 27.000 Toten „der zu seiner Zeit […] mörderischste [Tag] der ganzen Geschichte“. Auch wenn man sich bisweilen fragt, was Vuillard mit derlei Analogien und Querverbindungen bezwecken möchte, und die tropfende Bildlichkeit der Sprache sowie das collagenhaft-springende des Textes den Lesefluss mitunter recht mühsam machen, muss man Vuillard zu Gute halten, nach einer zeitgemäßen Betrachtung des Ersten Weltkrieges gesucht zu haben.
Das lässt sich von deutschen Autoren nicht behaupten. Die Deutungshoheit über den Ersten Weltkrieg ist hierzulande fest in der Hand von Historikern und Politologen. Warum das so ist, darüber kann nur spekuliert werden. Ein oft genanntes Argument lautet, dass in Deutschland die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg alles Vorangegangene überlegere. Das allerdings würde bedeuten, dass wir hierzulande eine facettenreiche literarische Auseinandersetzung mit der Zeit des Zweiten Weltkrieges erlebten. Davon allerdings kann schon lange keine Rede mehr sein. Die jüngeren Romane über die faschistische Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, die international für Diskussionen gesorgt haben, kamen nicht aus Deutschland, sondern ebenfalls aus Frankreich. Man denke an Jonathan Littells gewaltiges Epos über den SS-Mann Max Aue („Die Wohlgesinnten“), oder an Alexis Jennis Roman „Die französische Kunst des Krieges“, in dem der Bogen vom Zweiten Weltkrieg bis zum Ende der französischen Kolonialgeschichte gespannt wird. Wenn in den Büchern deutscher Autoren der Zweite Weltkrieg heute überhaupt noch eine Rolle spielt, dann allenfalls als Ausgangspunkt für generationenübergreifende Familiengeschichten. Man denke an Per Leos Roman, „Flut und Boden: Roman einer Familie“, eine der Nominierungen für den diesjährigen Leipziger Buchpreis.
Wie sehr sich zeitlicher Abstand auf literarische Deutung auswirken kann, und wie variabel Narrative sein können, zeigt in Miniatur die vor kurzem bei Klett-Cotta erschienene historisch-kritische Ausgabe von Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“. Erstveröffentlicht im Jahr 1920, überarbeitete Jünger das Manuskript in den nachfolgenden Jahrzehnten insgesamt elf Mal. Sieben unterschiedliche Versionen des Textes wurden seither veröffentlicht, die letzte von Jünger selbst revidierte Fassung erschien 1978. Geschuldet waren die Anpassungen stets dem jeweiligen Zeitkontext. Helmut Kiesel hat in präziser Detailarbeit die Genese des Textes über die Jahrzehnte kenntlich gemacht und ausführlich kommentiert.
Das Projekt macht einmal mehr deutlich, dass es im Segment der Sachbücher weder den Verlagen noch den Autoren an Innovationsfreude mangelt, wenn es um die Darstellung des Ersten Weltkrieges geht. Für die deutschsprachige Belletristik gilt dies 100 Jahre nach Kriegsbeginn nicht. Eine zeitgemäße literarische Befassung mit der Zeit, die das 20. Jahrhundert prägte wie keine Phase davor oder danach, ist hierzulande nicht in Sicht.
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