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Kritik

Der Traum von Europa

Geert Buelens erklärt den Ersten Weltkrieg aus der Sicht der europäischen Avantgarde
Hamburg

„Überall […] begeht man nun die Torheit, sich mit der Verteidigung des Alten zu befassen, statt das Kommende aufzubauen.“ Diese Worte stammen nicht etwa aus einem Fazit zur letzten Europawahl, sondern vom holländischen Dichter Albert Verwey (1865–1937), der damit im Jahre 1919 Kritik an den Inhalten der Versailler Verträge übte. „Die Welt befinde sich im Umbruch, doch der Westen sei mehr daran interessiert, alte Rechnungen zu begleichen, als sich mit den Anforderungen und Möglichkeiten der Gegenwart und Zukunft zu beschäftigen.“ Das Erlebnis des Ersten Weltkrieges, seine Voraussetzungen und Folgen verdeutlichten Verwey und vielen seiner Dichterkollegen, dass die Einheit Europas einmal mehr in weite Ferne gerückt war.

Einhundert Jahre nach seinem Beginn erfährt der Erste Weltkrieg eine Aufarbeitungswelle, die von zahlreichen neuen Impulsen angetrieben wird. Bemerkenswert ist dabei vor allem die überfällige Fokusverschiebung weg von der Rolle einzelner Staaten hin zu einem komplexeren, gesamteuropäischen Verständnis der Ereignisse. Diesen Weg der Betrachtung geht auch der Literaturprofessor Geert Buelens mit seinem Buch Europas Dichter und der Erste Weltkrieg. Darin gibt der Niederländer einen beeindruckenden Überblick über die Hoffnungen, Sehnsüchte und Schicksale, die zahlreiche Dichter in ganz Europa mit dem Krieg verbanden. Besonders auffällig ist dabei die immer wieder aufkeimende und teilweise sich konkretisierende Idee eines kulturell geeinten Europas, das mit dem Konzept nationaler Grenzziehungen nichts mehr anzufangen weiß.

Bereits 1905 träumte der ungarische Dichter Endre Ady (1877–1919) von diesem neuen Europa, obwohl er sah, dass der Kontinent noch nicht dazu bereit war. „Aber wenn man schon weiterhin in der Vergangenheit schwelgen wolle, solle man sich besser ein Beispiel am ruhmreichen Transsilvanien nehmen – jener multikulturelle Staat habe die europäische Kultur angenommen, Kunst und Wissenschaft erblühen lassen und religiöse Toleranz zu einem Zeitpunkt entwickelt, als ‚am Rhein das große Kulturvolk‘ noch Juden auf dem Scheiterhaufen verbrannte.“

Auch für Guillaume Apollinaire (1880–1918) existierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur noch ein europäischer Kulturraum, in dem der Dichter italienisch-polnischer Abstammung in Paris lebte, auf Französisch schrieb und mit Künstlern aller Disziplinen und Nationen im Austausch stand. In der radikalsozialistischen Bewegung formierte sich gar schon die Idee der Vereinigten Staaten von Europa. Der niederländische Dichter Herman Groter (1864–1927) erklärte in einer Studie von 1915 „der Nationalstaat sei mitverantwortlich für das endlose Blutvergießen.“ Ganz gleich, wer den Krieg gewinnen würde, der Imperialismus würde sich weiter ausdehnen und immer neue Konflikte hervorrufen.

Doch es waren längst nicht alle Dichter von der Idee des geeinten Europas erfasst und viele forderten nicht zuletzt aufgrund kultureller und vor allem sprachlicher Unterschiede die Souveränität ihres jeweiligen Heimatlandes. So zum Beispiel der irische Nationalist Patrick Pearse (1879–1916), der als einer der Anführer des Osteraufstandes für die Durchsetzung der Home Rule Bill kämpfte. Der Portugiese Fernando Pessoa verknüpfte „Elemente der internationalen Avantgarde und einheimische nationalistische Motive. So glaubte Pessoa aufrichtig […] an den ‚Sebastianismus‘, die mythologische Lehre, die besagt, dass Portugal durch eine Inkarnation des Königs Don Sebastião aus dem sechzehnten Jahrhundert errettet werden würde.“

Schließlich der Italiener Gabriele D’Annunzio (1963–1938), der als begeisterter Kriegsanhänger den Waffenstillstand von 1918 als „grobe Ungerechtigkeit“ empfand. 1919 besetzt er mit einem Korps aus Freischärlern die Stadt Fiume im heutigen Kroatien, um sie zu „italianisieren“. „D’Annunzio war jetzt der Duce von Fiume. Er hielt eine Rede, in der er sich selbst in einem oratorischen Orgasmus übertraf. Heldenmut habe über Politik gesiegt, Kühnheit über Feigheit und müßiges Palavern. Und wieder wurden Energien freigesetzt, die im normalen bürgerlichen Leben weniger zum Zuge kamen – unter anderem mit dem Ergebnis, dass Fiume schon bald eine separate Klinik zur Behandlung von Geschlechtskrankheiten benötigte.“ Die endgültige Annektierung scheiterte letztendlich am Widerstand der italienischen Machthaber. Doch sein „Pilotprojekt“ zur Veränderung und Erneuerung Italiens sollte nachhaltigen Eindruck bei Mussolini und den italienischen Faschisten hinterlassen.

Doch natürlich widmet sich Geert Buelens nicht allein den politischen Aktivitäten der Dichter. Immer wieder dienen ihm die Gedichte aus den Schützengräben, um die anfängliche Euphorie, aber auch das Leid und schließlich die Ernüchterung und Resignation der Soldaten zu unterstreichen. „Trotz des beispiellosen Grauens auf den Schlachtfeldern hatte der Krieg bereits ein Resultat von unschätzbarem Wert für die Menschheit: phantastische Lyrik. So lautete jedenfalls ein fast amoralischer Gemeinplatz aus den ersten Monaten des Krieges.“ Buelens‘ Umgang mit den Schicksalen und Texten der Dichter ist jedoch keinesfalls von solchem Zynismus geprägt. Einfühlsam erzählt er von Georg Trakl (1887–1914) und August Stramm (1874–1915), vor allem aber von hierzulande weniger bekannten Autoren aus nahezu jedem Land Europas.

Besonders beeindruckend ist dabei ein Gedicht des Briten Isaac Rosenberg (1890–1918). „Als Sohn aus einer armen russisch-jüdischen Emigrantenfamilie, der Militarismus und Nationalismus verabscheute, hatte er sich nur des Geldes wegen zum Militärdienst gemeldet.“

Drollige Ratte, erschießen würden sie dich, wüßten sie
Wie du im Grunde kosmopolitisch bist.
Nun hast du diese Britenhand berührt
Und wirst das gleiche tun mit einer deutschen –
Bald, zweifellos, wenn dir beliebt
Das stille Grün dazwischen zu durchqueren.
Sieht aus, als ob du grinst, wenn du vorbeiläufst
An starken Augen, edlen Gliedern, prächtigen Athleten;
Fürs Leben nicht so gut gemacht wie du,
Sondern verpfändet launenhaftem Mond,
Rekeln sie sich jetzt im Gedärm der Erde,
In den zerrißnen Feldern Frankreichs.

„Nun lag er selbst im Gedärm der Erde. Einige Wochen zuvor hatte er noch in einem Brief geschrieben: ‚Keine Droge könnte betäubender sein als das, was wir hier tun. Und es hört nicht auf, so wie bei der alten Wasserfolter, ohne Ende fällt Tropfen um Tropfen auf deine Hilflosigkeit! ‘ Manchmal nahm der Tropfen die Form eines Granatsplitters an und es war doch zu Ende.“

Buelens‘ Studie zeigt auf der Grundlage gründlicher Recherchen ein komplexes Panorama der Zeit vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg, sowohl aus der Sicht bekannter als auch heute fast vergessener Dichter. Dabei geht es ihm vor allem um die Zusammenhänge von Sprache, nationaler Identität und dem Traum vom friedlichen Internationalismus. Und obwohl Buelens politische Stellungnahmen fern liegen, schwingt angesichts der jüngeren und jüngsten Konflikte und Krisen des Kontinents immer auch die Warnung mit, aus der Geschichte zu lernen und das Zusammenwachsen Europas vor allem als Chance, denn als Bedrohung zu verstehen.

Geert Buelens
Europas Dichter und der Erste Weltkrieg
Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert
Suhrkamp
2014 · 456 Seiten · 26,95 Euro
ISBN:
978-3-518-42432-2

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