Das Zimmer füllt sich mit Musik
František Listopads ungebrochene Schaffenskraft ist beeindruckend. Über die Jahrzehnte seines Exils hinweg hatte er Gedichte, Prosa und Essays geschrieben und entweder auf Portugiesisch oder in kleinen tschechischen Exilverlagen veröffentlicht. 1921 in Prag geboren wuchs Listopad, der eigentlich Jiří Synek heißt, in einer böhmisch-jüdischen Intellektuellenfamilie auf. Die Protektoratszeit überlebte er im Untergrund, angewiesen auf die Solidarität von Freunden. 1945 gründete er mit Gleichgesinnten die Zeitung „Mladá fronta“(Junge Front) und schloß sich der jungen Künstlergruppe um dieses Blatt an. 1947 war er nach Paris gegangen und nach dem Februarumsturz der kommunistischen Partei nicht mehr in seine tschechoslowakische Heimat zurückgekehrt. Im Westen hatte František Listopad über Jahrzehnte in Lissabon gelebt. Er arbeitete beim Fernsehen, lehrte als Professor und wirkte als Dramaturg am Lissaboner Nationaltheater – sowie nach der politischen Wende im Januar 1990 auch an mehreren tschechischen Bühnen.
Die vorliegenden Langgedichte bestehen aus vier Gesängen, welche dem Gedichtband „Privater Sonnenuntergang“(2012) entnommen sind. In Gesprächen zwischen František Listopad und seinem Übersetzer Eduard Schreiber hatte Listopad darauf hingewiesen, daß seine biographischen Erlebnisse Eingang in seine Dichtung gefunden haben. Die im wahrsten Sinne des Wortes verdichtete Form der Auskunft über ein vielschichtiges Leben hat einer rein faktischen Berichterstattung voraus, daß die Aura von Erlebnissen gestreift wird, die in ihrer tiefsten Authentizität letztlich nicht vermittelt werden können.
So sieht sich der Leser in Listopads Versen einem poetischen Flirren ausgesetzt, angereichert von historischen Vorgängen wie auch mythischen Figuren, Formen, Farben sowie persönlichen Erlebnissen. Bereits der Titel „Die Erde ist Kohle und Zitronen“ läßt interpretatorische Spaziergänge in die unterschiedlichsten Richtungen zu. Das menschliche Leben ist neben der Arbeit auch von seiner Sinnlichkeit bestimmt, einer Kategorie, die sich mit ausschließlich materialistischer Orientierung kaum umfassen oder gar begreifen läßt. So, wie sich Tag und Nacht einander ablösen, wird auch das menschliche Dasein von verschiedenen Emotionen beeinflußt.
Die poetischen Gesänge František Listopads bilden eine Mischung von Erinnerungen und fiktiven Wahrnehmungen. Als würden aus den Herzkammern der Geschichte verschüttete Bilder an das Tageslicht gebracht, berühren Szenen und Beschreibungen in ihrer unmittelbaren Klarheit. Der erste Gesang wurzelt in der Vertrautheit einer böhmischen Kindheit und dem Hereinbrechen der Schoah, der Vernichtung. Im zweiten Gesang weitet sich die Welt durch die Erfahrung der Fremde und führt fast zum Verstummen: „Ich werde aufhören zu schreiben alles reimt sich / alles rhythmisiert sich früh am Morgen / späte Eule sie schreit / bin überall nirgends zu Haus“. Den dritten Gesang überschreibt Listopad mit dem Titel „Ungesang mit Blumen“. In lyrischer Prosa wird hier abweichend von der Dichtung eine Erinnerungspause eingelegt. Der Alltag im Exil klammert die Erinnerung an das Land der Herkunft nicht aus. Der vierte Gesang kann stattfinden, weil die Kinder herangewachsen sind und das Phänomen des eigenen Lebens im Mittelpunkt der Assoziationen steht: „Ich gehe weiter und weiter Kyrie eleison / Operation Meditation / Selbstruh / Das Zimmer füllt sich in meiner Abwesenheit mit Musik / das Kinderklavier klingt mir in den Ohren“.
Souverän beherrscht Listopad poetische Mittel wie den Einsatz von Assoziationen oder auch dem Wortspiel. Die tschechische Tradition von Langgedichten, wie sie in den 1920er und 1930er Jahren von bedeutenden Lyrikern wie Konstantin Biebl, Vladimír Holan, František Hrubín oder Vilém Závada geschaffen wurden, wird in Listopads Gesängen durch subtile poetische Verfahren bereichert.
Gar nicht genug können dabei in diesem Zusammenhang die Verdienste von Eduard Schreiber gewürdigt werden. Dabei geht es nicht nur um Schreibers kongeniale Übersetzungsleistung, sondern auch um sein Engagement, dem deutschsprachigen Lesepublikum längst überfällige Stimmen tschechischer Dichter nahezubringen. Neben Texten von František Listopad hatte Eduard Schreiber unter anderem auch bedeutende Herausgaben von Ludvík Kundera oder Emil Juliš erfolgreich in die Wege geleitet.
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