Zwischen.Welten
Wo bin ich, wenn ich an dem einen Ort nicht mehr, an dem anderen aber noch nicht bin? Dem zenonischen Paradoxon vom Pfeil, der, weil er sich zu jedem gegebenen Zeitpunkt an einem fest bestimmten Ort befindet, eben nicht fliegen können kann, auch wenn er fliegt, geht Czernin in seinem Essay "Quidquid latet apparebit? Zu einer Poetik der Vision" im zweiten Teil dieses Bandes nach. Er bezieht den Gedanken von der Unmöglichkeit des Übergangs von einem Zustand in den anderen dabei auf zwei große Menschheitsfragen: auf den Übergang vom Leben zum Tod und auf die Dichtung, genauer: auf den Übergang von einem Vers zum anderen. "If Orpheus could sing Zeno´s paradoxa, he wouldn´t look back."
Das eine nicht mehr, das andere noch nicht, und dazu die Unmöglichkeit, von einem Zustand aus den anderen zu erkennen: dieses verwirrende Spiel spielen auch die Gedichte im ersten Teil mit ihren Lesern. Und das beginnt schon mit dem Titel "zungenenglisch": Englische Sprache und Literatur bilden einen wichtigen Referenzpunkt für Czernins Dichtung, so weit so gut; doch mehr schwingt hier natürlich mit: "In Zungen sprechen", meint man herauszuhören und mag vielleicht hiervon ausgehend gleich noch "englisch" in altmodischer Weise mit "in der Sprache der Engel" verstehen. Angelicus vs anglicus also, und der Leser sollte sich besser ein Exemplar von Grimms Wörterbuch auf dem Tisch zurechtlegen (überhaupt sollte der Tisch, an dem man diese Gedichte liest, groß sein, denn es werden noch einige Bücher mehr darauf Platz finden müssen).
Aber zunächst ist es dann doch englisch im Sinne von anglicus, denkt man. Den sechs kurzen Zyklen und vielen der Gedichte darin sind nämlich Motti aus der englischen Literatur vorangestellt, "inselenglisch" also, wie es später einmal heißt, aber auch das ist natürlich nicht nur, was es auf den ersten Blick zu sein scheint. Die Motti stammen aus einer Vielzahl von Werken: Shakespeare und immer wieder Donne, aber auch Johnson, Milton, Blake, Dickinson, Byron, Keats, Swinbourne, Browning, Wordsworth und daneben Hölderlin, Dante, Baudelaire, Rimbaud - unser Tisch füllt sich schnell (ich rate dazu, noch eine Ecke für einen Laptop frei zu halten, um alle Zitate recherchieren zu können).
So stellt Czernin dem zweiten Zyklus ein Motto aus einem Gedicht Ben Johnsons voraus: "or leave a kiss but in the cup / and I´ll not look for wine" und spannt damit sogleich ein weitreichendes Netz aus. Denn das Gedicht "Drink to me only with thine eyes" ist nicht nur zu einem bekannten und weit verbreiteten Lied geworden, es lässt sich auch vielfach auf antike Literatur zurück beziehen, auf griechische Epigramme etwa, auf Philostrat oder die Becherszene im zweiten Buch des Romans des Achilles Tatius. Aber Czernin lässt uns zunächst in eine andere, vielleicht eine autobiographische, Richtung gehen: "da mundschenke, elterlich auch. / soweit raubrot, was versprachen. // mir aber festkörper, versehen nicht nur. / ja, sehr gewagtes, fehlerfreien. ..." Kaum ein Wort, das eindimensional verständlich wäre. Schenken/Schenke, rau-brot/raub-rot, frei/freien. Sicher ist nur, dass aus dem Becher als Medium der Verständigung zwischen Liebenden ein ganz anderer, ärmerer ("erbarmselig"), dass der Wein zu "krampfwein" geworden ist, Begleiter von "brosamen" auf einem ärmlichen Tisch. Und dieser Tisch wächst vor unseren Augen:
"festive hall, whose floor is ocean, whose tables are mountains" ist das zweite Stück des Zyklus überschrieben, eine Übersetzung von "Festlicher Saal! der Boden ist Meer! und Tische die Berge" aus Hölderlins "Brot und Wein"; und er wächst weiter im Motto des dritten Gedichtes (diesmal ist es Emily Dickinson) "a yellow fork / from tables in the sky" - der Blitz ("flammstich")beginnt, die ärmliche in eine bedrohliche Situation zu verwandeln, raubrot wird zu schreibrot (oder schreib-rot?), "... doch rachenqualm. arterblich auch. / bluternst, am urteilen, // dass es aufschrie, brosamen / schlemmerarm, kelchneigend. ..."
Immer weiter spannt sich Czernins Netz, die dünnen Fäden, die an die dickeren Fäden der Varianten ("rot/brot", "brosamen", "wein", "schlemmer", "sehr gewagt", "ernst" sind die wiederkehrenden Markierungen) geknüpft sind, werden dünner und durchscheinender, dass man kaum noch weiß, ob es sie überhaupt gibt. Und immer wieder findet Czernin dabei Worte, deren Sinn der eine nicht mehr und der andere noch nicht ist: "qualmund", "zweigarten", "rumpflücken", "erbreste", schwankerzen", "fleischlachten", "seesternte".
Da ich weiß, wie unbeholfen ein solcher Beschreibungsversuch bleiben muss und wie wenig jede Beschreibung diesen Gedichten gerecht werden kann, sei hier wenigstens eines, der Einschlag des Blitzes vom Himmelstisch (der wie eine heiße Kartoffel im Rachen steckenbleibt) im Ganzen mitgeteilt:
a yellow fork / from tables in the sky
erdfrucht, sinister auch
auf einmal verbleibt. rau tafeln.
dir schreibrot, rauschhaft.stets flammstich, herzungen.
auch uns fehlerfreien. lebkosten.da fest zeitigst, versehen mir.
wie tief kehlgold,doch rachenqualm. arterblich auch.
bluternst, am urteilen,dass es aufschrie, brosamen
schlemmerarm kelchneigend.uns rest abbrichst, herb rot.
ja, sehr gewagt. weinerlös.
Zeit muss sich nehmen, wer diese Gedichte lesen will. Viel Zeit. Und dabei wird sich das eine Paradoxon doch nicht lösen lassen, dass wir nämlich stets nur entweder den einzelnen Knoten betrachten können, oder versuchen das gesamte Netz in den Blick zu nehmen, das sich da zunächst zwischen den Gedichten eines Zyklus und weiter zu den vielen anderen Texten, die inzwischen auf unserem Tisch liegen, spannt. Und am Ende sitzen wir als Leser dann rittlings auf Zenons Pfeil, während der mit rasender Geschwindigkeit in der Luft steht.
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