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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Einer, nicht einerlei

Eine anthropologische Skizze
Hamburg

Einer, der Einer heißt, geschichts- und namenlos, darum aber noch nicht ohne Identität, die sich ohnehin gerade aus Spannung und Widerspruch erst ergibt, vielleicht aus dem Widerspruch gegen den Namen, der auch, wo einem als Name nicht „Nacktmull Erwin” droht, eine Zumutung ja ist, einer/Einer, der also das Halbe zu tun – und vielleicht vor allem: zu belassen – vermag, sogar halbe Luftballons, wird von Friedrich Hahn in eine Welt gestoßen, in der alles andere als solche Anfangs- und gewissermaßen Endlosigkeit sowieso Illusion ist.

So haben wir einen sozusagen schon umständehalber klugen Protagonisten, der exzentrisch wie der einstige Planet Pluto kreist, torkelt, das Ziellose immerhin kohärent gestaltet. Wo er wie bei seiner Seifenapokatastasis programmatisch wird, hier: indem er den zum Recycling bestimmten Seifenstückchen Lavendel beigibt, scheitert er, also ist er nicht programmatisch oder teleologisch. Solche Figuren passen zu unserer post histoire-Situation, man denke an Rüdiger Görners Klam, ihnen bleibt das Flanieren oder Kreisen – das memoriert, daß es antiteleologisch ist, eine paradoxe Obsession.

Demensprechend liebt Einer neben der Namenlosigkeit und einer Namenlosen eben die weite Bahn Plutos, aber auch Kreisverkehr und Drehtür. Sich selbst verfehlt er, „zwischen mir und mir”. Sammelt er, was ihn umgibt, so weder um des einen Gegenstandes wegen, der ja die Sammlung, die ihn datiert, fast widerlegt, aber auch nicht der Sammlung wegen, die wiederum den Gegenstand zum Vertreter einer Kategorie entstellt; also sammelt er gar nicht, der titelgebende Setzkasten zeugt davon. Und liebt er, dann will er nicht „aus Zerstreutheit begehren”, aber auch nicht grundlos, also doch aus der Perspektive zerstreuter, distribuierter Liebe, wie eine Pornoszene andeuten mag. Liebt er..?

Dieses Kreisen erscheint kraftlos, aber man täusche sich nicht, es ist nicht frei von Erregung, ist ein Kreislauf, der pulsiert, man möchte bei dieser Bedeutung fast Bernhard zitieren: „Erregung […]. Bringt das lahme Blut in Gang. Pulsiert. Macht lebendig und macht dann Bücher.” Es führt zu Jodeldiplom und mehr, nur nicht zu einem Ende. Einer weiß das, zu sagen, Hahns Sprache wäre „manchmal fast zu klug für den gedächtnislosen Protagonisten” (Gunther Neumann, in seiner ansonsten klugen Rezension für das Presse-Spectrum), ist denkbar falsch, denn aus der Absenz von Vergangenheit hat er mehr gelernt, als mancher aus umfangreicher memoria; er tut mancherlei, bloß „nie bis zum Schluss”, was, wenn man an klassische Narrative glaubt, bedeutet, er könne und wolle sich insgesamt „dem Erzähltwerden verweigern”. „Wie bei einem Buch: Da gibt es auch plötzlich keine nächste Seite mehr.” Das ist eines der Schrecknisse unserer Zeit: „Daß man verketten muß, daß es aber nichts zu verketten gibt”, wie Jean-François Lyotard schrieb.

Dieses Schrecknis kennen Hahn und Einer. Hahns Protagonist antizipiert ihn zugleich aus der Erfahrung, sich ins Leben geschlichen zu haben, nichts Abruptes ist da, keine – metaphorische – Nabelschnur, die durchtrennt worden wäre; stattdessen ein Nebel. Ein Anfangen, das so unklar wie alles ist, was anhebt; oder anhebe, es ist ja eine Unterstellung, daß etwas begonnen habe. Und so endet dieses Buch auch in einem Fading, gewissermaßen. Das ist nicht frei von Melancholie, aber eine erstaunlich menschengemäße Art, zu vergehen, wie zuvor: zu sein.

So kann man zuletzt sagen: Dieser Text ist eine anthropologische Skizze, durch die Existenz Einers hindurch – lesenswert, jedenfalls, wenn Menschsein auch heute keine Bagatelle sein sollte.

Friedrich Hahn
Der Setzkasten - oder Erwin und die halben Luftballons
edition keiper
2015 · 144 Seiten · 17,12 Euro
ISBN:
978-3-902901-74-3

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