Istanbul
Die gewaltsame Niederschlagung der Gezi-Proteste in der Türkei liegt inzwischen knapp eineinhalb Jahre zurück. Recep Tayyip Erdogan ist Staatspräsident und baut das Land systematisch zur Diktatur um. Weitreichende Einschränkungen von Pressefreiheit und Bürgerrechten gehen einher mit erweiterten Machtbefugnissen der Polizei, die nach wie vor gewaltsam auf Demonstrationen reagiert, während eine Handvoll mit der Politik verbandelte Großunternehmen einen rücksichtslosen Radikalkapitalismus forcieren und gewachsene urbane Strukturen vernichten. Immerhin: Der Gezi-Park im Zentrum Istanbuls existiert noch. Doch die Neugestaltung von Taksim und Gezi ist nicht vom Tisch. Man darf davon ausgehen, dass die verantwortlichen Akteure lediglich auf einen günstigen Moment warten. Die Hoffnungen auf eine Wende, einen demokratischen Aufbruch in der Türkei, haben sich nicht erfüllt. Im Gegenteil. Manche Beobachter beurteilen die aktuelle Lage als dramatischer als die bereits brenzlige Situation in den Neunziger Jahren.
Die Gegend um Taksim und Gezi ist ein symbolträchtiger öffentlicher Raum, nicht erst seit dem Sommer 2013. Die Akteure des Widerstands sind noch da, aber der Raum wurde ihnen genommen. Versammlungen und Demonstrationen sind dort heute wieder verboten, und das Verbot wird von der Polizei rigoros durchgesetzt. Hier setzt der von Friedrich von Borries, Moritz Ahlert und Jens-Uwe Fischer im Merve Verlag herausgegebene Band „Urbane Interventionen Istanbul – Learning from Gezi?“ an. Es ist das erste Buch zum Thema, das mit einigem zeitlichen Abstand zu den eigentlichen Ereignissen in Deutschland erscheint, und im Gegensatz zu vorherigen Autoren wie Deniz Yücel („Taksim ist überall“, Hamburg 2014), Tayfun Guttstadt („Capulcu“, Münster 2014) oder den in der Anthologie „Gezi“ vertretenen türkischen Autoren (Hrsg. Sabine Adatepe, Berlin 2014) waren die Macher dieses Buches nicht selbst dabei, sondern recherchierten im Nachhinein.
Gerade das macht den Band interessant. Bietet er aufgrund des Abstands und der anderen Ausgangssituation der Herausgeber andere, neue Einblicke? Gelingt ihm eine Einordnung der Gezi-Bewegung in den Kontext anderer urbaner Protestbewegungen wie beispielsweise in Teheran, Kairo, Madrid? Und was – um bei der Frage aus dem Titel zu bleiben – können wir von Gezi lernen?
Leider verschenken die Herausgeber dieses Potential. Neben einem interessanten Essay von Pelin Tan über die neoliberale Stadtentwicklung in Istanbul und einer Einordnung von Yelta Köm, die auf die Geschichte von Taksim und Gezi eingeht und die Gründe für den Protest zu erläutern versucht, enthält das Buch ein Interview mit dem Soziologen Dieter Rucht aus Berlin, der sich mit Protestbewegungen beschäftigt und am Beispiel Gezi einige eher generelle Einlassungen zum Thema abliefert. Der Kernteil des Buches dokumentiert knapp und anhand von Schlagworten mit kurzen Texten und Bildern die Aktionen von Aktivisten, Künstlern, Demonstranten, Bürgern im öffentlichen Raum Istanbuls vor, während und nach den Protesten. Hier bleibt es beim Anreißen von Themen, deren Vertiefung man sich gewünscht hätte – erst recht jetzt einige Zeit danach. Eine kritische Betrachtung, in der auch das Problem der wachsenden Künstlerszene als Speerspitze der von ihr selbst bekämpften Gentrifizierung zur Sprache kommt, findet allenfalls rudimentär statt, die inneren Widersprüche, die letztlich dazu geführt haben, dass der Zusammenhalt der Taksim-Kommune von so kurzer Dauer war, finden nahezu keine Erwähnung.
Wer sich mit dem Thema bereits auseinandergesetzt hat oder gar selbst dabei war, wird aus dem Buch keine neuen Erkenntnisse gewinnen – und die Herausgeber versuchen gar nicht erst, die Titelfrage zu beantworten, sondern lassen sie im luftleeren Raum stehen. Da sind die Ansätze von Guttstadt und Yücel ergiebiger, auch ein Jahr nach Erscheinen ihrer Bücher.
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