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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

1 Buschen Seelenangst

Friederike Mayröcker ging Hand in Hand mit Scardanelli

Alles wird kleiner, der Tag hauchdünn, vom alternden Ich bleibt nur „1 Krümel Leben zwischen den Fingern zerrieben“. Und dennoch: Auch mit Vierundachtzig ist dieses kleine bisschen Nichts noch ein poetischer Gigant: Friederike Mayröcker, alias Scardanelli, Wahlname des in den Jahren vor seinem Tod verwirrten Hölderlins.

„Die Spur führt nach Tübingen, in eine Turmstube oberhalb des Neckars. Dort sitzt einer und schreibt. Hölderlin nennt er sich indes nicht mehr. Seine Gedichte unterzeichnet er »Mit Unterthänigkeit / Scardanelli«.
Seine Stube verläßt er nur selten, und doch begegnet ihm Friederike Mayröcker auf ihren Streifzügen durch magische Kopf- und Sprachlandschaften auf Schritt und Tritt: Mal stößt sie auf ihn, »wo junge Blättchen wo verborgene Veilchen schwärmten«, mal zeigt er sich als »1 schöner / Wanderer mit Alpenhut und einer Blume in seiner / Hand«.“ (Verlagsinfo)

Seelenverwandt fühlt sie sich ihrem Dichterkollegen: Die Welt verschwindet, „mein Gehirn verdampft“. Während  das Ich zunehmend um sich selbst kreist,  gerinnt die Poesie zu höchstmöglicher Konzentration. Dem gegenüber steht die unaufhörliche Wiederholung einer wild wuchernden Vielfalt schier endloser Variationen immergleicher Naturmotive: Vögel, Wald, Weiden, Berge, Flüsse, Seen und Meere, vor allem Blumen im Wechsel der von Hölderlin zuletzt immer wieder umkreisten Jahreszeiten. Traubenhyazinthen, Himmelsschlüssel, Nachtviolen und andere „Gottesblumen“ umschlingen „1 Buschen Seelenangst“ vor dem  Sterben.

dieser Leiterwagen dieses Schluchzen diese 70 Jahre danach
dieses mit Mutter hinauf die Dorfstrasze hinauf (damals in
D.) das Kreuz der Deichsel in den Händen ach weiszt du
noch der ockerfarbene Staub der Strasze an meinen Füszen
(nackt), das Kreuz auf der Anhöhe wo die Felder Wiesen
sich breiteten wie mit offenen Armen und wir zum nahen
Steinbruch die kl. und gröszeren Steine einsammelten diese
Grotten Gottesblumen in D. während über dem Stege begannen
Schaafe den Zug usw.
jemand, 1Traum, hügelt mir wie Schnee oder Schwan, 1 POMP die
beweglichen Primeln über dem Wasser / Mystifikation eines
Lebens 8o liebliche Sommer ach weiszt du noch die Erdbeeren
in den Beeten (mit Steinen bekränzt) im groszen Garten die
Hauswurz die weiszen Lilien der Hibiskus in den Wolken in
den duftenden Lauben die MADONNA gesehen wo die verborgenen
Veilchen sprossen
(aber es fallen auseinander meine Gebeine ..)

Eingebettet in die Natur, wird der gefürchtete Schritt in die Ewigkeit zum sanften „Blüthentod“. „Honigreiche Vogelstimmen“, „trinkbare Frühlingsblüten“, die „Süsze der Bäume“ und Farbe der Kirschen betören die Sinne und nehmen „Vogelschädeln“, „weiszen Lilien“ und anderen Todesboten momentlang ihren Schrecken. Der längst verstorbenen Mutter, Vater und ihrem Lebensmenschen Ernst Jandl reicht Mayröcker in ihren Gedichten „am Schlund der Zeit„ die Hand, während sie den lebenden Freunde mit ihren Versen voller Lust und Weh wie zum Abschied noch einmal zuwinkt. Was bleibt? Die „Mystifikation eines Lebens 80 liebliche Sommer“, und „dann hört alles plötzlich auf“? Eins jedenfalls ist sicher: Mayröckers Gedichte werden sie überdauern.

Friedrike Mayröcker
Scardanelli
Suhrkamp
2009 · 52 Seiten · 14,80 Euro
ISBN:
978-3-518420683

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