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Kritik

Der Noahkarton

Bulgarische Geschichten über Einsamkeit und gegen das Vergessen
Hamburg

Ganz am Anfang, habe ich gesagt, steht ein in den Keller geworfenes Kind.

Und dieses in den Keller geworfene Kind ist der Minotaurus. Ein Ungeheuer halb Stier, halb Mensch, von seinem Vater König Minos in ein unterirdisches Labyrinth gesperrt, um die Schande seiner Zeugung – die Königin Pasiphaë hatte ihren Gatten mit einem Stier betrogen – vor der Welt zu verbergen. Dort, unterhalb des kretischen Palastes, von Vater und Mutter im Stich gelassen, verwandelt sich das Kind in das Monster, das athenische Jungfrauen und Jünglinge frisst.

Als wohl erster Autor in der Literaturgeschichte empfindet der 1968 geborene Bulgare Georgi Gospodinov Empathie mit diesem Ungeheuer. Sieht in ihm den Prototyp des zurückgelassenen, einsamen Kindes. Macht ihn zum Leitmotiv seines neuen Romans Physik der Schwermut. Schreibt ihm sogar eine ganze Verteidigungsrede, die er vor einem imaginierten Welt- und Unterweltsgericht hält, und lässt endlich einmal das vermeintlich Monster zu Wort kommen. Nennt ihn einen unschuldigen Jungen, eingesperrt in einen Keller, der Angst hat.

Was hat der Minotaurus nach all den Jahrhunderten zu seiner Verteidigung zu sagen? Freilich, nichts als ein langgezogenes „Muuuuuh“, das alles und nichts zugleich sagen kann und gerade deswegen der trefflichste Kommentar zu dem ganzen Dilemma ist.

Aber nicht nur in den Minotaurus fühlt sich der Erzähler hinein, er leidet seit seiner Kindheit an übergroßer, ja fast schon pathologischer Empathie, die es ihm ermöglicht sich z.B. in eine Nacktschnecke hineinzuversetzen, die gerade von seinem Großvater verschlungen wird. Darüber hinaus vermag er sich auch noch in die Geschichten und Erinnerungen seines Gegenüber hineinschleichen, um sie zu erleben, als wären es seine eigenen. So kann er plötzlich zu seinem dreijährigen Großvater werden, der 1917 am Ende des Krieges, von der Mutter in der Mühle vergessen, und ob der großen vorherrschenden Hungersnot um ein Haar auch nicht wieder abgeholt wird. Ist derselbe Großvater acht Jahre später, auf einem Jahrmarkt, der einem Stierjungen begegnet und die Sprache verliert. Liegt während des zweiten Weltkriegs verwundet, aber sicher verborgen im Keller einer Ungarin, mit der ein Kind zeugt.

Dieses besondere Talent seines Erzählers ermöglicht es dem Autor Georgi Gospodinov leichtfüßig von der Gegenwart in die Vergangenheit seiner Familiengeschichte, zu den beiden Weltkriegen, dem Stupor des Sozialismus in den achtziger Jahren und dann wiederum in die Antike zu schweifen. Keine lineare Erzählung zu verfolgen, sondern weit verstreute Erzählfäden auszubreiten, falsche Fährten zu legen und den Leser somit in ein Labyrinth der Geschichten und Erinnerungen zu locken.

Das auf diese Weise entstandene Buch ist alles andere als ein klassischer Roman. Es handelt sich vielmehr um eine Ansammlung von Geschichten, Anekdoten, Listen, Miniaturen und Fotographien. Gospodinov schreibt gegen das Vergessen an, die Epidemie der Erinnerungslosigkeit. Denn wie ihr Landsmann Christo scheinen die Bulgaren insgesamt eine Liebe zum Verhüllen und Verpacken zu haben, wenn es um ihre sozialistische Vergangenheit geht. Deswegen sammelt Gospodinov auch noch die absurdesten Geschichten, um sie dem Vergessen und der Gleichgültigkeit der über sie hin wegrollenden Zeit zu entreißen. Die im Noahkarton aufbewahrten Geschichten, die Literatur begreift Gospodinov somit als Zeitkapseln, mit Nachrichten an die Zukunft.

Schreiben, schreiben, schreiben, aufschreiben und bewahren, wie eine Arche Noah sein, dort gibt es alle Arten von Kreaturen, kleine und große, reine und unreine, man muss von jeder Art und von jeder Geschichte etwas mitnehmen. Die reinen Genres interessieren mich nicht besonders. Der Roman ist kein Arier.

Den Ariadne Faden durch dieses Erzählgeflecht bildet die Minotaurus-Sage. Er ist der Prototyp des verlassenen Kindes, zu dem der Erzähler immer wieder zurückkehrt. Mit dem er sich gleichsetzt, wenn er als Kind endlos erscheinende Stunden alleingelassen in der Souterrainwohnung der arbeitenden Eltern verbringt. Fallende Blätter und die Schuhe der vorbeilaufenden, gesichtslosen Passanten beobachtet. Es ist die heiße Phase des Kalten Krieges Ende der siebziger Jahre. Die atomare Bedrohung und das mögliche Weltende ständig präsent. Die USA sendet die Voyager ins All und das verlassene Kind beginnt seinen eigenen Zeitkapseln zu basteln. Zeugnisse seiner selbst und der Menschheit in Keksdosen für den postapokalyptischen Leser zu sammeln. In die Hausapotheke für nach dem Ende der Welt schreibt es in seiner Kinderschrift:

Menschliche Wesen umarmen sich gern. Wenn ihr zufällig ein menschliches Wesen trefft, das überlebt hat, breitet eure oberen Extremitäten weit aus und umfasst es leicht. Es ist gut, eure Arme so lang wie möglich so zu halten.

(Es folgt eine eigenhändige Zeichnung, eine Skizze von sich umarmenden Menschen.)

Dem menschlichen Wesen wird das große Beruhigung bringen. Es ist möglich, dass es mit einer klaren Flüssigkeit aus den Augen zu weinen beginnt. Menschliche Wesen weinen gern. Es ist nicht schlimm, daran stirbt man nicht.

Das ist rührend und grotesk. Georgi Gospodinov hat mit Physik der Schwermut einen zugleich melancholischen und überaus gewitzten Roman vorgelegt. Eine Hommage an den Menschen und die Menschlichkeit. Eine Rhapsodie der verlassenen Kinder.

Georgi Gospodinow
Physik der Schwermut
Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann
Droschl
2014 · 336 Seiten · 23,00 Euro
ISBN:
9783854208495

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