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Kritik

„Was soll man denn auch schon tun? "

"Natürlich nur sich selber leid.“
Hamburg

Vor über dreißig Jahren habe er, schreibt Günter Kunert im Prolog zum nun vorliegenden zweiten Band seiner Notizen, sein „Big Book“ begonnen, als Aufzeichnung von „Geschehnissen von erschütternder Bedeutungslosigkeit,“ und er fährt fort: „Es ist, wie alle Literatur, ein Selbstgespräch, und ich kenne, ironisch gesagt, keinen besseren Dialogpartner als mich selber.“

So viel vielleicht gleich zu Anfang dazu, inwiefern sich Kunerts Aufzeichnungen von einem ihrer großen Vorbilder, nämlich den Sudelbüchern Lichtenbergs, unterscheiden. Lichtenbergs Notate waren allerdings nie für die Mitwelt bestimmt, und sicher liegt auch in dieser Tatsache einer der großen Unterschiede. Ein Selbstgespräch, das dazu gemacht ist, damit andere es belauschen, braucht mehr Selbstgewissheit als eines bei dem der Schreibende bei sich selbst bleibt.

Aber bevor die Kritik einsetzt, einiges zu Inhalt und Geschichte des vorliegendes Buches. „Tröstliche Katastrophen“ ist der zweite veröffentlichte Teil des bereits erwähnten Big Book, eines Projektes, das mittlerweile über 1.000 Seiten umfasst. 2004 gab Hubert Witt gemeinsam mit Günter Kunert die erste Auswahl dieser Textsammlung heraus, unter dem Titel „Die Botschaft des Hotelzimmers an den Gast.“ Während die erste Sammlung sich vornehmlich thematisch gliederte, folgen die „Tröstlichen Katastrophen“ der Chronologie.

Philosophisch, politisch und anekdotisch, reflektieren Kunerts Notate immer wieder den Vorgang des Notizen Machens selbst. „Wie es angefangen hat, weiß ich nicht mehr. Zum Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, historisierend gesagt, in der Ära des sterbenden Sozialismus, machte ich mir über dieses und jenes Notizen. Und merkte gleich, daß ein Gedanke nur Bestand hat, wenn man ihn schriftlich fixiert.“

Scheinbar verdient es jeder von Kunerts Gedanken, Bestand zu haben. Ob er sich über die Rolle der Literatur äußert, oder von skurrilen Zeitungsnachrichten aus den Assoziationen freien Lauf lässt. Kunert macht in seinen Notizen wiederholt die Medien mitverantwortlich für einen Anstieg der Gewalt, die Bilder fungierten als Vorbilder, so liest sich das bei ihm. Das „Unheimliche“ am Kamikazeflug vom 11. September „erscheint mir“, schreibt Kunert, „als seien die blutrünstigen und Katastrophen ausmalenden Leinwandwerke tatsächliche „Vorgaben“ gewesen, ohne die die Terroristen kaum auf die Idee solcher Zerstörung gekommen wären.“

Zweifel, wenn er denn aufkommt, bezieht sich auf den Vorgang des Notizen Machens, nicht auf ihre Stichhaltigkeit. „Was mich zu diesen Notizen berechtigt? Daß sich auch in Scherben die Welt spiegelt.“

Neugierde oder echtes Interesse entwickelt Kunert ohnehin eher für seine Person, als für das Weltgeschehen, für das er immer schon eine Deutung und Erklärung zur Hand hat. Sich selbst jedoch versucht er unaufhörlich auf die Spur zu kommen. Kein Jahr, in dem die Notizen über das Alter, die Endlichkeit, den Verfall, fehlen. Körperliche Schwächen, geistige Einschränkungen, keine Lust mehr, weit zu reisen, keine Neugier mehr auf andere Menschen, der immer gleichen Gespräche überdrüssig. „Unser Wissen, oder was wir dafür halten, stillt die Neugier“, schreibt Kunert und er selbst, das macht die Lektüre teilweise so ermüdend, hat in erster Linie Antworten, statt Fragen. Alles scheint seltsam abgeschlossen und zwangsläufig in diesen Betrachtungen. Selbstkritisch räumt Kunert ein: „Ich bin nicht stolz darauf, seit langem als Unheilsprophet zu gelten, Recht behalten zu haben ist wenig befriedigend.“

Man sehe in den anderen, in dem, was einen selbst umgibt, immer in erster Linie das, was in einem selbst wirkt, heißt es. Vor diesem Hintergrund kann es kaum verwundern, dass eine der wiederholten Motive in Kunerts Notizen das Bedürfnis ist, wahrgenommen zu werden. So schreibt er von dem Mann, der mit einem abgetrennten Kopf unter dem Arm, durch die Fußgängerzone spazierte, oder von solchen, die andere zusehen lassen, wie sie sich erhängen, immer mit der Gewissheit, das Motiv ihres Handelns zu kennen. Nämlich einmal im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Die erschütternde Abkehr von seiner an Demenz erkrankten Frau, vollzieht Kunert in seinen Notizen nahezu sarkastisch und ohne jegliche Emotionen. Er streicht sie aus seinem Leben, macht sie zu einem unverständlichen Teil seiner Vergangenheit.

Einer Vergangenheit, von der er durchaus lebendig erzählen kann, wenn es zum Beispiel um den Bau der Berliner Mauer geht. Immer wieder trägt Kunert schwer an geschichtlichem Mitleid, seine Frau hingegen sucht ihn nur in ihm selbst nicht deutbaren Träumen heim. So sieht er in seinen Einträgen eine „Fundgrube [¡K] zeitgeschichtlichen Denkens.“ Es lässt sich nicht abstreiten, dass eine Menge Zeitgeschichte aufgerollt wird in den Notaten Kunerts, er äußert sich sowohl zum Abschied von der DM, als auch zur Tsunamikatastrophe, zum Aufstand der Jugendlichen in den Banlieus, wie auch zum 11. September und zum sogenannten „arabischen Frühling“. Nur tut er dies durchgehend ohne rechtes Interesse, ohne Hintergründe, immer nur durch die ermüdende Schablone des ICH.

In Marguerite Duras letzten Notaten vor ihrem Tod, die Yann Andrea in „C'est tout“ festgehalten hat, geht es um das Schreiben und wie nah das Schreiben dem Schweigen ist. Nur an dieser Grenze hat es einen Sinn. Einen, den der Schreibende erschafft, denn man kann nichts hinzufügen, nur erschaffen. Das war der Glaubenssatz der Duras. Deswegen hat sie so große Literatur hervorgebracht.

Gunter Kunert verlegt sich, zumindest mit seinen „Tröstlichen Katastrophen“ auf das Hinzufügen. Von der Unmöglichkeit, einen Film nachzuerzählen, schreibt Kunert: „Indem wir es in Sprache umwandeln, verliert es sein Wesentlichstes und wird abstrakt.“ So ergeht es einem, der nicht erschafft, sondern nacherzählt und hinzufügt, bei dem man am Ende der Lektüre das Gefühl hat, der zu Anfang noch rätselhafte Titel des Buches, verdanke sich womöglich der Tatsache, dass hier einer Trost findet, in den Katastrophen, allein weil er, als einziger, die Ursachen kennt.

Günter Kunert · Hubert Witt (Hg.)
Tödliche Katastrophen
Aufzeichnungen 1999-2011
Hanser
2013 · 384 Seiten · 24,90 Euro
ISBN:
978-3-446-24129-9

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