Man in the box
Kann man über eine Geiselhaft von 111 Tagen, gekennzeichnet von minimaler Aktion, aber Warten in Ungewissheit, eine graphic novel von über 400 Seiten verfassen? Man kann.
Guy Delisle, 1966 im kanadischen Québec geboren, erweist sich durch seine jüngste Publikation „Geisel“ erneut als Comiczeichner mit kosmopolitischen Interessen. Als solcher reüssierte er bereits mit graphic reportages wie „Aufzeichnungen aus Birma“, „Pjöng Jang“ oder „Aufzeichnungen aus Jerusalem“. Der Künstler nutzte für diese Werke entweder die Erfahrungen aus seinen internationalen Reisen nach Asien im Auftrag von europäischen Animationsfilmstudios oder die längeren Auslandsaufenthalte zusammen mit seiner Frau, die für die NGO Médecins sans frontières (MSF / Ärzte ohne Grenzen) arbeitete.
Diesmal jedoch griff er auf keine eigene Geschichte zurück, sondern auf die eines Kollegen seiner Frau, Christophe André. Dieser war 1997 als MSF-Koordinator für Finanzen und Human Ressources in die russische Republik Inguschetien im Nordkaukasus entsandt worden. Inguschetien war erst im Dezember 1992 durch Trennung vom nach Unabhängigkeit strebenden Tschetschenien entstanden.
Drei Monate nach Dienstantritt wird André in der Nacht vom 1. auf den 2. Juli in der damaligen Hauptstadt Nasran von tschetschenischen Separatisten entführt und im tschetschenischen Grosny festgehalten, in einem kargen Zimmer ohne Aussicht, auf einer Matratze, angekettet an einer Heizung. Es gibt dürftige Mahlzeiten, ab und an ein Glas Wodka oder eine Zigarette in Gemeinschaft mit den Bewachern, die allesamt weder das Französische noch das Englische beherrschen. Eine beinahe vollkommene kommunikative Isolation.
Zunächst ist André davon überzeugt, dass es sich um eine nur sehr kurze Phase bis zu seiner Befreiung handeln werde. Er zählt sorgfältig Tage und Datum, registriert aufs Genaueste die wenigen Abwechslungen: ein Fußballspiel im Fernsehen, an dem ihn die Entführer Teil haben lassen, die Vorführung eines Videos von einem Trainingscamp tschetschenischer Aufständischer, Varianten in den Mahlzeiten, geringste Änderungen im gewohnten Geräuschumfeld. Und er geht im Kopf Fluchtmöglichkeiten durch.
Die Stunden und Tage kriechen dahin, zugleich liegt über allem die Spannung, wann endlich die ersehnte Rettung erfolgt: (4. Nacht) „Sie müssen schon in Kontakt mit den Entführern sein und meine Freilassung aushandeln. Vielleicht ist es ja diese Nacht so weit?“ - „Heute ist der 9. Juli. Seit einer Woche bin ich jetzt hier eingesperrt. Allmählich müssen sie sich wirklich beeilen und mich hier rausholen … Sonst werde ich verrückt.“ - „Heute ist der 13. Juli. Fast zwei Wochen bin ich jetzt schon hier. Ich versteh's nicht. Wir haben doch Kontakt zu etlichen Clanchefs in der Gegend.“
Am 15. Tag machen die Entführer ein Foto von André, erneut keimt Hoffnung in ihm auf. Am 23. Tag überkommen André Depressionen: „angekettet wie ein Hund. Muss ja niemand sehen, wie ich hier verschimmle. Kommt doch endlich. Irgendwer. Ich kann nicht mehr ...“ Doch nichts geschieht. Im August beginnt André mit einer Art Resilienz-Übung: „Ich muss meinen Geist beschäftigen.“ Und memoriert ab da des öfteren seine Kenntnisse in Militärgeschichte.1
Am Tag 66 verlangen seine Entführer Tonbandaufnahmen mit seiner Stimme und konfrontieren ihn mit der von ihnen geforderten Lösegeldsumme: eine Million Dollar. André ist entsetzt: zu viel Geld für eine NGO. Am Tag 69 erster Kontakt, per Telefon, mit einem Kollegen. Ein emotionaler Wendepunkt: „... vor allem konnte ich das erste Mal seit Monaten wieder auf die Geschehnisse Einfluss nehmen … sagen, dass ich nicht einverstanden bin. Und dass ich noch länger durchhalten kann, wenn es sein muss.“
Am 111. Tag findet sich André unerwarteterweise nicht angekettet; die Lage ist so günstig, dass er fliehen kann, zunächst ungläubig über diese Situation und höchst verunsichert, dann euphorisch auf der Flucht. Er hat Glück und gelangt zu Menschen, die ihn wieder seinen Kollegen zuführen.
Stilistisch treibt Delisle in „Geisel“ den schon in seinen letzten Werken artikulierten zeichnerischen Minimalismus konsequent weiter: Die krakelige Strichführung – eine relativierende ligne claire ins Extreme reduziert – vermittelt in „Geisel“ Leere, Ungewissheit und Angst. Das bis auf eine Glühbirne und eine Matratze leere Zimmer, in dem André etliche Tage seiner Haft verbringt, rückt als Raum, in dem der Gefangene mit sich allein ist, durch Längs-, Seit- und Vogelperspektive immer von Neuem in den Fokus; die durchgängigen Blau- und Grau-Töne mit ihren raren Abstufungen verstärken den Eindruck des quälend langsamen Zeitflusses und der trägen Eintönigkeit trotz der immensen Spannung zwischen stets drohender Verzweiflung und hoffnungsvollen Ungewissheit, ob nicht doch Rettung naht. Man in the box.
In jedem seiner Werke gelang es Delisle bisher, die atmosphärischen Verhältnisse in adäquat in die Bildsprache zu übertragen: In „Shen Zen“ etwa überwogen die detaillierten und etliche Grauabstufungen nutzenden Skizzen von Bauwerken, exakte Wiedergaben chinesischer Schriftzeichen auf Werbetafeln im städtischen Umfeld – sie sind Ausdruck der Faszination des zeichnenden 'Reporters' im völlig fremden Ausland; „Pjöng Jang“ spiegelt zeichnerisch die Geradlinigkeit des kommunistischen Systems in Nordkorea.
In der vorliegenden Erzählung, die alle Qual der Gefangenschaft erst Tag für Tag, dann in exemplarischen Tagen misst, ist es vor allem das Schlussbild mit dem hellen, horizontweiten Blick auf die Plaine de la Moskova,2 das einen grandiosen Eindruck von Befreiung und Freiheit vermittelt. Dass Christophe André sich diesen Ort als Besichtigungsziel vor seinem Rückflug nach Paris wünschte, ist Ausdruck von Erleichterung und Dankbarkeit zugleich: sich durch eigene Vorstellungskraft eine freiheitliche Distanz bewahrt zu haben und einem blutigen Ende entronnen zu sein.3
Von den Tonaufnahmen der Berichte Andrés bis zur fertigen graphic novel liegen übrigens 15 Jahre: Zeichen eines langen Abstimmungsprozesses zwischen Delisle und André und Beleg für die dokumentarische Treue.
- 1. Ein literarisches Pendant ist Stefan Zweigs „Schachnovelle“, das die Haft unter der Gestapo und als Gegenmittel dazu die Konzentration auf das Schachspiel thematisiert.
- 2. Im Deutschen ist die Schlacht bei Moskova als Schlacht bei Borodino bekannt, eine der blutigsten Schlachten des 19. Jahrhunderts, bei der Napoléon einen taktisch langfristig ungünstigen Sieg gegen die Russen errang.
- 3. Der französische Originaltitel ist „S‘enfuir“, seine Bedeutung: „entkommen“, „fliehen“.
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