Die andere Seite ein und derselben Sache
„In jeder Hinsicht völlig unscheinbar“ wirkt Yong-Hye auf ihren Mann, und genau deshalb hat er sie geheiratet: „Ihr Mangel an Ausstrahlung, ihr fehlender Esprit und Charme, kam mir im Grunde genommen sehr gelegen.“
Der erste Akt des virtuos komponierten Psychothrillers „Die Vegetarierin“, für den die südkoreanische Autorin Han Kang im Mai den Man Booker International Prize erhielt, wird aus Chongs Perspektive erzählt. Da Chong ein angepasster, kleingeistiger Büroangestellter ist, den nichts so sehr interessiert wie die Wahrung der Konventionen, stößt in diesem ersten Teil auch Kangs Sprache immer wieder an die engen Grenzen seines Denkens. Ein ziemlich origineller literarischer Trick, der die Leser_innen zwar frustriert, zugleich jedoch mit einer unstillbaren Neugier infiziert. An der Oberfläche serviert uns die Autorin drögen Ehealltag à la carte: Yong-Hye verkriecht sich stundenlang mit einem Stapel Bücher in ihrem Zimmer und kommt nur heraus, um zu kochen; Chong geht beflissen, wenn auch leidenschaftslos seiner Arbeit nach und nimmt ansonsten Yong-Hyes Dienste in Anspruch wie die einer unbezahlten Haushälterin.
Ein schlagartiges Ende findet das unaufgeregte Nebeneinanderherleben, als Chong seine Frau eines Nachts reglos im Nachthemd vor dem Kühlschrank stehend antrifft. Am nächsten Morgen beginnt Yong-Hye, sämtliche Fleischvorräte wegzuwerfen. Ihre einzige Erklärung: „Ich hatte einen Traum.“
Sie beschließt, fortan auf alle tierischen Produkte zu verzichten (korrekt müsste der Titel also eigentlich „Die Veganerin“ lauten), und auch Chong bekommt zu Hause nun kein Fleisch mehr vorgesetzt. Eigentlich keine große Katastrophe, sollte man meinen. Doch in „Die Vegetarierin“ ist es, als geriete durch diese Veränderung der Boden, auf dem sich das Paar bewegt, erst unmerklich, dann immer schneller in eine bedenkliche Schräglage.
Dazu muss man wissen, dass Vegetarismus oder gar Veganismus in Südkorea (zudem 2007, als das Buch im Original erschien), tatsächlich einem unerhörten Akt der Rebellion gleichkam – ganz anders als in westlichen Metropolen, in denen man heutzutage an jeder Ecke vegane Würstchen, fettfreie Eiscreme und glutenfreie Cupcakes erstehen kann. In Südkorea hingegen deutet eine Abweichung vom traditionellen Speiseangebot darauf hin, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist. So auch in Kangs Roman. Feine Haarrisse beginnen die Fassade der scheinbar intakten Ehe zu durchziehen, die sich auch in der Sprache fortsetzen: Plötzlich wird Chongs nüchterne, beschränkte Gedankenwelt durchbrochen von kursiv gesetzten Passagen, die fragmentarische Einblicke in Yong-Hyes Traumwelt geben. Was sich dort abspielt, lässt sich nicht anders beschreiben als blutig, bizarr und gewaltvoll.
Kein Wunder, dass sie kaum noch schläft, immer mehr abnimmt und auch sonst recht seltsame Verhaltensweisen an den Tag legt. Besessen von dem Wunsch, Sonnenlicht in sich aufzusaugen, beginnt sie beispielweise, sich in aller Öffentlichkeit zu entblößen – im prüden Südkorea ein veritabler Skandal. Für Chong entpuppt sich ausgerechnet die Frau, die er wegen ihrer Durchschnittlichkeit und Passivität ausgesucht hatte, als „Fallgrube ohne Boden“. Eine böse Ironie, die Kang mit allen dramaturgischen Mitteln ausreizt.
Gesichter leben in ihrem Bauch, dessen ist Yong-Hye sich sicher, die sie von innen her auffressen und in etwas Unbekanntes, Unheimliches verwandeln. Spätestens hier schlägt das Psychogramm einer erstickenden Ehe um in einen abgründigen, nicht selten pornografisch angehauchten Thriller mit handfesten Horror-Elementen. Kaum jedoch glaubt man zu wissen, welche Richtung die Autorin einschlägt, macht sie einen Cut. Nach einem Eklat beim Familienessen, bei dem Yong-Hyes jähzorniger Vater seine Tochter zum Fleisch essen zwingen will und diese sich wutentbrannt selbst mit einem Messer verletzt, wechselt abrupt die Perspektive.
Nun berichtet Yong-Hyes Schwager. Still und in sich gekehrt lebt der erfolglose Künstler neben Yong-Hyes Schwester, der resoluten In-Hye, und dem gemeinsamen Sohn her. Doch auch er hat ein Geheimnis: Immer wieder suchen ihn so erregende wie verstörende Visionen eines nackten, mit Blumenornamenten bemalten Paares in ekstatischer Umarmung heim. Mit niemandem wagt er darüber zu sprechen – bis die Entdeckung eines sogenannten „Mongolenflecks“ auf dem Hinterteil seiner Schwägerin in ihm ein nie gekanntes Begehren weckt. Im Gegensatz zur konventionellen Schönheit seiner Frau verkörpert Yong-Hye für ihn „die Natürlichkeit eines wildgewachsenen Baumes, der nie zurechtgestutzt worden war“. Unbewusst erkennt er damit ein Verlangen tief in ihrem Inneren an, das immer stärker wird und nach außen drängt. So gerät Yong-Hye in seinen Bann und lässt sich darauf ein, gemeinsam mit ihm an der Umsetzung seiner künstlerischen Visionen zu arbeiten. Dass das nicht gutgehen kann, ist klar. Erneut kommt es zum Eklat.
Akt drei geht noch einen Schritt weiter: Auf die Zersetzung des Familiengefüges folgt die Auflösung des Körpers. Nervlich bedingte Magersucht in Kombination mit Schizophrenie, lautet Yong-Hyes Diagnose. Da sie glaubt, sich in einen Baum zu verwandeln und diese Verwandlung wie nichts anderes herbeisehnt, verweigert sie jede Nahrung. Bäume leben schließlich allein von Wasser, Luft und Sonne. Wir begleiten In-Hye bei den Besuchen ihrer Schwester in der Psychiatrie – oder begleiten wir vielmehr Yong-Hye bei ihrer Verwandlung in eine Pflanze? Die Rollen der beiden Schwestern beginnen zusehends zu verschwimmen. Nun, da ihre Ehe zerbrochen ist, bröckelt auch In-Hyes Fassade einer toughen Geschäftsfrau und aufopfernden Mutter. Erinnerungen an die traumatische Kindheit und den gewalttätigen Vater blitzen auf, begleitet von lange verdrängten Schuldgefühlen. Hin und hergerissen zwischen Fürsorge und Hass, versucht sie verzweifelt, Yong-Hye am Leben zu erhalten. Doch die erwidert nur: „Ja und? Ist es denn verboten zu sterben?“
Interessanterweise bezieht die Autorin an keiner Stelle eine moralische Position. Die Wünsche und Bedürfnisse ihrer Figuren, egal wie verrückt oder unlogisch sie anmuten mögen, stehen als gleichwertig, gleich vernünftig und gleich erstrebenswert nebeneinander. Tatsächlich erscheint in manchen Momenten die Aussicht, sich aufzulösen und mit der Natur zu verbinden, weitaus verlockender als ein Weiterleben im Korsett der streng reglementierten koreanischen Gesellschaft. Doch sind die starren Konventionen der Grund für Yong-Hyes Todessehnsucht? Der schmale Roman bringt viele Themen zur Sprache, die alle ihren Teil beitragen könnten zur Erklärung der surrealen, alptraumhaften Phänomene, die er schildert: repressive Sexualmoral und patriarchale Strukturen, rigide Geschlechterrollen, Missbrauchserfahrungen und Gewalt, sexuelle Obsessionen, Essstörungen, selbstverletzendes Verhalten. Für sich genommen greift jedoch jedes Element zu kurz. Und darin liegt auch eine Stärke des Buches: Trotz vielfältiger Ansätze versucht Kang nicht, die Narration restlos aufzuklären oder die Psyche ihrer Figuren vollends zu erfassen.
Schade nur, dass die deutsche Übersetzung etwas holprig wirkt und sich die unterschiedlichen Stimmen nicht auch stilistisch deutlicher voneinander absetzen. Gerade in Anbetracht der differenzierten Charakterzeichnungen bleibt nicht selten ein Gefühl zurück, als hätten sich Schönheit und Nuancenreichtum der Originalsprache abgeschliffen, als wären die Worte gleichsam stumpf geworden im Prozess der Übertragung.
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