Eventuell eine Novelle oder: Roman ohne Krieg
Der Roman "Das Mädchen mit den Orangenpapieren" bietet fast alles, was ich mir von einem guten Kurzroman wünsche - fast; er ist das Debüt eines bisher als Fotograf, Schauspieler und Publizist in Erscheinung getretenen und mehrfach ausgezeichneten Autoren: Hanns Zischler, 1947 in Nürnberg geboren.
Zum Ersten ist es ein echtes Buch, Hardcover meine ich, ich nehme es in die Hand. Auf dem strukturierten Schutzumschlag, der sich gut anfühlt, ist ein Orangenpapier abgebildet. Heute haben wir schon fast vergessen, dass es so etwas Mal gab. Früher waren darin die Orangen eingewickelt, damit sie nicht beschädigt werden, was heute durch das Konservieren der Schale überflüssig geworden ist. Diese wertvollen Früchte, die man hierzulande zu erschwinglichen Preisen doch erst seit Wirtschaftswunderzeiten kaufen konnte, und genau in dieser Zeit ist der Text lokalisiert: Mitte der 50er. Ich klappe das Buch auf, es riecht nach Buch, die Seiten sind nicht hauchdünn, bei der schönen Serifenschrift und dem anständigen Rand hat sich jemand etwas gedacht.
Ich beginne zu lesen, schnell merke ich, dass der Autor zu schreiben versteht, sparsam sind hier die Worte gesetzt, überlegt, unmittelbar werden die Personen eingeführt. Die Protagonistin wiederholt ein Rätsel, über das sie im Rahmen ihrer Schulaufgaben nachdenkt und das uns das ganze Buch begleiten wird, der Vater kommentiert, schickt sie zum Einkaufen, beinah hätte er noch Zigaretten der Einkaufsliste hinzugefügt... der Werbeslogan ist dem Mädchen gleich präsent - "Morgen so gut wie gestern und heute - Zuban" - und ab diesem Moment sehe ich die Figuren vor mir, mit an Gebäck erinnernden, schokoladenbraunen oder vanilleblonden Frisuren und voller amerikanischem Enthusiasmus. Elsa - wie sie heißt und noch nicht mal 18 ist - muss ihrem Vater helfen, der die meiste Zeit des Tages auf Arbeit ist, sie zieht los zum Markt, Bayern, ein kleines Dorf, die Umgebung wird wunderbar poetisch sichtbar gemacht, leuchtet auf, hier zeigt sich der Fotograf im Schriftsteller Hanns Zischler und in den gelungenen Szenen der Schauspieler. Durch wenige Ereignisse wird klar: Vater und Tochter sind nach ihrem Herzug aus Dresden noch Fremde, zu anders ist die Welt, dort Stadt - hier tiefste Provinz, dort Spuren des Krieges - hier, als wäre nichts gewesen. Auch der Tod der Mutter, die am Ende des Krieges an einer unheilbaren Krankheit gestorben ist, bestimmt die Stimmung.
Die Marktfrau hat für Elsa Orangenpapiere aufgehoben. Elsa sammelt sie. Elsa faszinieren die Papiere, in deren Motiven sie sich, ihre Geschichte und Sehnsüchte wiederfindet.
Im Laufe der Erzählung knüpft sie Freundschaften und macht Erfahrungen, in denen die dünnen Papiere immer wieder eine Rolle spielen, wie ein Orakel, wie das Ding-Symbol einer Novelle; eigentlich haben wir es hier doch mit einer Novelle zu tun! Das würde den Fokus auch mehr auf die Qualitäten des Buches richten. Denn wenn ich mit dem Anspruch "Roman" an die Erzählung herangehe, werde ich enttäuscht, denn es fehlt den Personen an Komplexität.
Manchmal wird nämlich doch ein bisschen zu wenig gesagt, die Protagonisten bleiben zu konturlos. Sie wirken wie Fotos, herausgelöst aus dem Rest der Welt, oder wie die Leute auf den 50-Jahre-Werbeplakaten. Im Rest der Welt begann der Kalte Krieg, die Deutschen rüsteten wieder auf, der Euratom-Vertrag wurde unterschrieben, und das nach zwei Weltkriegen, in denen Deutschland eine aggressive Rolle gespielt hat und von denen der letzte gerade mal 10 Jahre her war - das Greul der Judenvernichtung war noch nicht annähernd aufgearbeitet. 56 beschloss der Bundestag mit 2/3 Mehrheit die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht... und das vor dem Hintergrund, dass Elsa einen Teil ihrer Kindheit nachts in Luftschutzkellern verbracht haben muss und man sich bei ihrem Vater fragt, warum er den Krieg und vor allem wo überlebt hat. Ich will damit nicht moralisch werden, aber das sind so einschneidende Erfahrungen, dass es jeden damals geprägt hat und die Figuren wirken mir in Bezug darauf zu harmlos: Wo sind ihre Ängste, Hoffnungen, Enttäuschungen, Schuldgefühle, Aggressionen, Wünsche, wo spiegeln sich ihre Mechanismen der Verarbeitung, oder eben Nicht-Verarbeitung: Alpträume, Psychosen. Auch das Nicht-darüber-Reden könnte man ja in einem Roman darstellen.
Von meinen Vater (Generation Elsa) weiß ich, dass ihn der Krieg zum Atheisten gemacht hat (Denkt Gott an alle Menschen? Offenbar nicht.) Von meiner Oma mütterlicherseits (Generation Elsas Vater), dass sie in erster Linie um das bloße Überleben der Familie gekämpft hat und recht unpolitisch war. Beide flohen zum Schluss aus russischem Besatzungsgebiet, konnten aber ihr Bild vom "bösen Russen" noch durch reale, positive Kontakte relativieren.
Das Buch lässt hier zu viele Fragen offen, ein unkundiger Leser könnte den Eindruck haben, der Krieg wäre nicht so schlimm gewesene bzw. es spiele zu einer anderen Zeit oder in einem anderen Land. (Gerade ins dünnbesiedelte Bayern kamen doch auch viele Flüchtlinge aus Schlesien und dem Sudetenland).
Elsa muss ja nicht gleich zur RAF-Terroristin werden, aber ein paar Fragen an die Elterngeneration, außer: "Wann habt ihr euch kennengelernt?" wird sie schon gehabt haben.
Die wenigen Anspielungen auf den Krieg erschöpfen sich in einem einarmigen Ex-Soldaten, der als Bettler von Tür zu Tür zieht, aber im Wesentlichen nur eine Suppe bei ihnen isst / der Bemerkung des Vater, der den Krieg als "Schlamassel" bezeichnet und den eigentlichen Beginn erst 1941 ansetzt / und der Erwähnung des "Nazipeters" = "Peter Ignaz heißt der", hatte Pauli ihr erklärt. Ich zucke zusammen, als ich das lese, aber weiter kommt nichts zu dem Thema.
Genau an dieser Stelle wäre doch aber der Ansatz für einen großen Gesellschaftsroman gewesen. Gerade weil die Geschichte so meisterhaft erzählt ist - mit Höhepunkten wie der Umwandlung der Trauer des Mädchens in positive Energie oder der ersten Liebesnacht -, verwundert es umso mehr, dass das vom Autor nicht auch genutzt wurde. Der Kontrast von zerrissener Vorgeschichte und scheinbar idyllischer Gegenwart könnte nicht spannender sein.
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