Unter dem Gesichtspunkt der Schönheit
In Concord, dem kulturellen Kraftzentrum der Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert, war Henry David Thoreau eine der eigenwilligsten und sicherlich am längsten nachwirkenden Persönlichkeiten, gleichermaßen Dichter wie Naturkundler, Sozialkritiker wie Philosoph, Sammler von Indianerartefakten und eine Art früher Aussteiger, der zum zivilen Ungehorsam aufrief. In dem schmalen, unter dem Titel „Lob der Wildnis“ von Esther Kinsky zusammengestellten und übersetzten Bändchen kann man, komprimiert und poetisch verdichtet, all diese Eigenschaften finden.
Bei seinem Tod im Mai 1862 hinterließ Thoreau ein unvollendetes Konvolut mit Notizen über „Wild Fruits“, mit dem er sich seit dem Herbst 1859 beschäftigt hatte. Herausgegeben wurde das Manuskript auf Grund diverser Schwierigkeiten allerdings erst im Jahre 2000 von Bradley P. Dean; seine Edition stellt die Grundlage einer 2012 bei Manesse publizierten deutschsprachigen Übersetzung dar. Im Gegensatz zu dieser vollständigen Ausgabe setzt Esther Kinskys Auswahl nun ein paar ganz eigene Akzente. Kinsky hat nur einige der Pflanzenporträts zusammengestellt, sie teilweise gekürzt und mit von Thoreau alternativ entworfenen Anfangs- und Schlußsequenzen versehen, die bei Dean als „Related Passages“ aufgeführt sind, in der Manesse-Übersetzung jedoch unberücksichtigt blieben. Der tagebuchartige Charakter wird dadurch ein wenig zu Gunsten des essayistischen verschoben und verstärkt, und dies verleiht den Texten eine Ernsthaftigkeit jenseits der Opulenz von Coffee Table Books. All dies wird aber leider weder in irgendeiner Weise hervorgehoben noch kurz in einer editorischen Anmerkung erläutert, so daß der Leser sich zu fragen beginnt, woher die Texte eigentlich stammen. Ein grundsätzliches Manko ist das jedoch nicht, lenkt es nämlich die Aufmerksamkeit ganz auf die Porträts selbst, die gleichsam wie kostbare poetische Miniaturen wirken, nicht zuletzt dank der geschmeidigen und Thoreaus Stil genau treffenden Übersetzung Esther Kinskys.
Im Einzelnen sind es die „Erdbeeren“, die „Schwarze Heidelbeere“, „Die Europäische Preiselbeere“ und „Wilde Äpfel“, die Thoreau hier einer eingehenden Betrachtung unterzieht, indem er genaue Beobachtung und poetische Beschreibung mit philosophischer Reflektion, Zeitkritik und einem botanischen Wissensfundus amalgamiert. Vorangestellt ist ihnen ein Essay mit dem Titel „Wilde Früchte“, in dem Thoreau über die Bedeutung der Frucht an sich philosophiert, „der höchste Ausdruck ... eines jeden geschaffenen Dings“, und über ihren Wert, der jenseits einer Handelsware liegt und vor allem eine profunde Verbindung zu seiner hiesigen Landschaft erzeugt: „Was hier heimisch ist, kann uns etwas beibringen, ihm haben wir zu verdanken, daß wir hier leben können.“ Dieser Dankbarkeit verleiht Thoreau immer wieder Ausdruck, auch im direkten Vergleich mit der Vegetation in Großbritannien, die somit eine subtil formulierte politische Dimension bekommt. Das Native, Heimische ist, wie man annehmen könnte, keineswegs auf die weißen Siedler beschränkt, u.a. plädiert Thoreau deshalb ziemlich provokant dafür, „die indianischen Pflanzennamen soweit wie möglich wieder ein[zu]führen“ anstelle der griechischen oder lateinischen.
Zu den schönsten Passagen des Buches gehören die Erinnerungen an das freie Pflücken von Heidelbeeren. „Doch leider, leider, haben sich die Zeiten zum Schlechten gewandelt! Ich höre, dass Heidelbeerpflücker aus den Feldern vertrieben werden und sehe Parzellierungen mit schriftlichen Hinweisen, die das Pflücken verbieten“. Das Wilde interessiert ihn, die „geheime Überlieferung“ verborgener kleiner Vorkommen, dagegen „Erdbeeren in Gärten oder in Marktkörben, in Viertelpfundschalen, gezüchtet und verkauft von einem tüchtigen Geizkragen aus der Nachbarschaft, die lassen mich kalt“. An anderer Stelle folgt daher auf das Lob der wilden Äpfel zwangsläufig die prophetische Erkenntnis: „Das Zeitalter der wilden Äpfel wird bald vorüber sein.“
Das berührt letztlich das menschliche Verhältnis zur Natur überhaupt, denn Thoreau begreift die Pflanze in ihrem Eigenwert, sieht sie zugleich aber metaphorisch: „Das Geheimnis des Lebens der Pflanzen ist mit dem unserer Leben verwandt, und der Physiologe sollte nicht voreilig ihr Wachstum mit mechanischen Gesetzen erklären oder so, als erläutere er eine Maschine, die er selbst konstruiert hat.“ Wir sollen, mahnt Thoreau, nicht durch die Welt trampeln „wie der Ochse im Blumenbeet“, sondern uns aufmerksam, dankbar und frei an den Schönheiten der umgebenden Natur erfreuen:
Wie wenig Wert legen wir auf wahrhafte Großartigkeit und Schönheit der Natur! Ein Dutzend Meilen von uns entfernt könnte es die herrlichsten Landschaften der Welt geben, ohne dass wir davon wüssten — nur weil die dortigen Bewohner sie nicht wertschätzen oder wahrnehmen und deshalb anderen nicht davon berichten.
Doch geht es Thoreau nicht allein um eine Seh-Schule, es geht ihm um viel mehr: um einen Lebensstil und um das Wesentliche des Lebens selbst, das eben nicht in den Heilsversprechen einer wirtschaftsorientierten Zivilisation zu finden ist. Mancher mag eine solche Haltung heute allzu moralisch finden, doch behält Thoreaus Klage nach wie vor Aktualität:
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die heranwachsende Generation in dieser Stadt nicht weiß, was eine Eiche oder eine Tanne ist, die Exemplare, die sie kennen, sind nur ein schwacher Abglanz der echten Bäume.
Fixpoetry 2014
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben