Kritik

In minimis tota est

Hugh Raffles macht das Unsichtbare sichtbar
Hamburg

Es liegt ganz ruhig auf dem Tisch und scheint dennoch zu leben. Je nach Lichteinfall glänzt sein Rücken grün oder tief violett. Die Oberfläche ist strukturiert, fühlt sich rau an und glatt zugleich. Noch bevor man Hugh Raffles' Insektopädie aufschlägt wird, der Band zum Erlebnis. Dass ein Buch seinem Inhalt so perfekt angepasst wird, versteht sich nicht von selbst. Sogar an den flexiblen Einband, der das Buch biegsam und trotzdem stabil macht, hat Gestalterin Pauline Altmann gedacht; fast wie ein Chitinpanzer. Ob der neongelb gefärbte Schnitt anlocken oder warnen soll, ist nicht klar, aber er sorgt dafür, dass die Seiten leicht zusammenkleben und beim Umblättern ein raschelndes, reißendes Geräusch erzeugen. Vielleicht übertreibe ich es hier mit der Sensorik, doch auch das erinnert mich an das Rascheln von Insekten, zumindest aber an das Öffnen von Siegeln, die zu einer anderen Welt führen.

Die Sensibilisierung für Welten, die um uns herum existieren und sich, wenn überhaupt, meist nur durch Kleinigkeiten offenbaren, war laut eigenen Aussagen der Antrieb des britisch-amerikanischen Anthropologen Hugh Raffles ein Buch über Insekten zu schreiben. Das Ergebnis ist ein alternatives Kompendium, dass in persönlichen Prosaimpressionen und fundierten Essays von A bis Z die komplexen Zusammenhänge zwischen den aufrecht gehenden und den krabbelnden Erdenbewohnern darzustellen versucht; ohne den geringsten Anspruch auf Vollständigkeit, versteht sich. Vielmehr unternimmt Raffles Expeditionen mit dem Wissen, dass ihm bei gleichzeitiger Entschlüsselung eines Insektengeheimnisses hundert andere verborgen bleiben.

Dabei schwingt auch immer etwas von der bedrückenden Wahrheit mit, dass die Parallelwelt der Insekten ein Hort menschlicher Albträume ist. Besonders beeindruckend wird das im Kapitel „Core“ dargestellt, einem detaillierten Portrait der Arbeit von Cornelia Hesse-Honegger. Die Schweizer Künstlerin und naturwissenschaftliche Zeichnerin dokumentiert seit 1967 mutierte Insekten, vorrangig aus nuklear belasteten Gebieten. Ihre Bilder bewegen sich auf der Grenze von Kunst und Wissenschaft und verdeutlichen das Ausmaß der Deformierungen durch enorme Vergrößerungen oder serielle Gegenüberstellungen. Doch der Wert ihrer Arbeiten ist umstritten. Der Kunstwelt sind sie Werke oft nicht künstlerisch genug, die Wissenschaft betrachtet sie meist als unwissenschaftlich. Eine Abwehrhaltung, die Hugh Raffles nicht überrascht. Wer will schon gern mit Gliedmaßen konfrontiert werden, die aus Augen wachsen?

Doch um diese und andere Arten der Sichtbarkeit geht es Raffles, deren Folge entweder in der Verstärkung von Abscheu und Ekel oder aber einer gewissen Einfühlung in das Leben der Insekten besteht. Beim Besuch des Insektariums in Montréal wird dem Anthropologen und seiner Frau in Anbetracht der unzähligen Schaukästen klar, „dass wir in einem Mausoleum waren, und dass an den Wänden Tote aufgereiht waren, dass diese großartig aufgespießten Präparate […] nicht nur verblüffende Objekte waren, sondern auch winzige Kadaver. Wie seltsam, dass wir Insekten als schöne Gegenstände ansehen, dass sie im Tod schöne Gegenstände sind, während sie lebend, wo sie über den Holzboden huschen, aus Ecken und unter Bänken lugen, uns in die Haare fliegen und unter den Kragen, am Ärmel hochkrabbeln… Unvorstellbar das Chaos, kämen sie zurück ins Leben. Selbst an einem Ort wie diesem würde man dem Drang nachgeben, um sich zu schlagen und sie zu zerquetschen.“

Es ist das Zusammenwirken von Faszination und Ekel, das diese kleinen Lebewesen, die so eng mit uns zusammenleben, so fremdartig und fern erscheinen lässt. In der Realität, wie in der Fiktion kann das plötzliche, ganz und gar unerwartete Zusammentreffen beider Welten daher nur schockierend wirken. Auch Raffles gibt zu geschrien zu haben, als ihm unter der Dusche „eine siebeneinhalb Zentimeter lange Küchenschabe“ vor die Füße fiel. Und auch der Schock der Familie Samsa in Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung erscheint dem Leser mehr als nachvollziehbar. Die Begeisterung für genau dieses Stück Literatur ist indes bis heute ungebrochen. Raffles umgeht dieses naheliegende Beispiel des Zusammenwirkens beider Welten jedoch geschickt, indem er in seinem Kapitel „Kafka“ ausschließlich die Verwandlung der Raupe zum Schmetterling umkreist. Bis heute ist es eines der größten Rätsel der Biologie, das viele unbeantwortete Fragen bereithält. „Was ist das für ein Keim, der von einer Form zu anderen, von einem zum anderen Wesen mitgenommen wird? Was dauert in all dem? Was für ein Geschöpf ist das? Ist es eines, sind es viele?“

Doch es soll hier nicht der Eindruck entstehen Raffles widme sich in seinem Buch ausschließlich der Diskrepanzen zwischen Menschen und Insekten. Vielfach begibt er sich auf Reisen, vor allem nach Asien und Indien, um von Traditionen zu berichten, die beispielhaft für ein respektvolles Zusammenleben beider Spezies sind. So weiht der Anthropologe den westlichen Leser in die Welt der Grillenkämpfe Chinas ein. Dabei geht es nicht allein um den Besitzerwechsel von Wetteinsätzen, sondern vor allem um eine spirituelle Verbindung zwischen Mensch und Insekt, zwischen Trainer und Athlet. Letztere werden wild eingefangen und sogar auf Märkten gehandelt. Die Sieger bringen es innerhalb der Szene zu Ruhm, die Verlierer werden wieder in die Freiheit entlassen.

Auch in der westlichen Welt werden immer wieder Versuche einer Zusammenführung unternommen. Raffles zweifelt jedoch nicht selten an ihrem Gelingen. So zeigt er sich kritisch und belustigt zugleich gegenüber Versuchen den Menschen die Welt durch die Augen der Insekten zu zeigen. Bizarr wirken die Bilder der Kinder aus dem North Carolina State Museum of Natural Science, die mit riesigen Ameisenköpfen auf ihren Schultern aussehen wie Monster aus einem alten B-Movie. Überhaupt sind auch die Fotos in Insektopädie nicht nur ein illustratives, sondern auch ein interessantes gestalterisches Element. Sie scheinen absichtlich eher klein gehalten zu sein, damit der Betrachter nah heran kommen soll, um genau hinzusehen und seinen Blick zu schärfen. Denn so lautet Raffles fast schon metaphorische Botschaft: „Wir sind von unsichtbaren Welten, Parallelwelten umgeben. Vertraute Gegenstände haben geheime Identitäten […]. Wir bewegen uns durch all das nicht nur kurzsichtig, sondern behindert durch die Alltagsannahme, dass die Welt so ist, wie wir sie sehen. In dieser Hinsicht zumindest ist unsere Wahrnehmung oberflächlich, obwohl ich es ehrlich gesagt für unwahrscheinlich halte, dass Bienen oder Schmetterlinge sich nicht ihrerseits als Mittelpunkte fühlen.“

Hugh Raffles · Judith Schalansky (Hg.)
Insektopädie
[Insectopedia]
Aus dem amerikanischen Englisch von Thomas Schestag.Kleinquart-Format (17 x 23cm), durchgängig zweifarbig, mit Kopfschnitt und Lesebändchen.
Matthes & Seitz
2013 · 380 Seiten · 38,00 Euro
ISBN:
978-3-88221-080-4

Fixpoetry 2014
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge