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Kritik

Keine Versprechen

Ingrid Meyer-Legrands Ansatz im Umgang mit Kriegsenkel-Biografien bietet Anregungen, aber keine Therapie.
Hamburg

Der ungeheure Erfolg der Bücher zur Thematik Kriegskinder/Kriegsenkel übertrifft bei weitem jenen bisheriger Generationen-Deklarationen wie „Generation X“ oder „Generation Golf“. Das anhaltend erfolgreichste Buch, neben den ebenfalls bekannten Titeln von Bettina Alberti („Seelische Trümmer), Anne-Ev Ustorf („Wir Kinder der Kriegskinder“), ist Sabine Bodes „Kriegsenkel“, im September 2016 in 20. Auflage gedruckt. In etlichen größeren Städten haben sich inzwischen Kriegsenkel-Gruppen zwecks Austausch gebildet. Gab es je „Generation Golf“-Gruppen?!

Derlei legt nahe, dass hier kein künstlich herbeigedachter, sondern ein tatsächlicher Identifikationsfaktor vorliegt, der auf Berührungspunkten gemeinsamen Erlebens beruht. Die genannten Autorinnen verwendeten den Begriff „Kriegsenkel“ in Anlehnung an Katharina Ohana („Ich, Rabentochter“) und überführten ihn aus der individuellen Problematik in den psycho-biografisch-sozialhistorischen Kontext.

Wer also sind die s. g. Kriegsenkel? Es sind die Menschen, die unter den Folgen der Traumata ihrer Eltern, der Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs, leiden. Da Letztere mit ihren Kriegstraumen häufig allein blieben, ohne adäquate Aufarbeitung des Erlebten, waren und sind sie gefühlsmäßig nicht mehr vollends zugänglich. Dies bewirkt, dass die nachfolgende Generation emotional ohne die notwendige Resonanz blieb und teilweise bis heute bleibt – mit einschneidenden Folgen für die eigene Lebensgestaltung: So gehört zu den immer wieder beschriebenen 'Kennzeichen' der Kriegsenkel das Gefühl, nicht bei sich selbst anzukommen, was sich bspw. in gestörter Selbstwahrnehmung, Beziehungslast, Schwierigkeiten beruflicher Positionierung, Rastlosigkeit etc. äußert. Denn emotional überforderte Eltern erzeugen emotional überlastete Kinder; eines der häufig gebrauchten Schlagworte in diesem Kontext lautet Parentifizierung1. Das Trauma kann so gewissermaßen von der einen zur anderen Generation weitergehen (Sekundärtrauma).

Die o. g. Autorinnen beließen es, wie viele weitere in der Folge, bei aufs Defizitäre fokussierten Beschreibungen des Phänomens. Dem gegenüber gibt es vergleichweise wenige Versuche eines therapeutischen Angangs. Zwar lassen sich etliche Ansätze bereits aus Erkenntnissen, die etwa das Ehepaar Mitscherlich2, Arno Gruen3 u. a. seit den 60er-Jahren formulierten, ableiten; in neuester Zeit unternahm Luise Reddemann4 einen etwas hilflosen Versuch, eine Therapie dezidiert für die Kriegsenkel zu entwickeln; auch das Ehepaar Frick-Baer5 hat sich dem in Ansätzen gewidmet; noch aber fehlen (psychotherapeutisch) wirksame Zugriffe für den Umgang mit den typischen Schwierigkeiten der Kriegsenkel.

Insofern ließ die Ankündigung eines Buches mit dem Titel „Die Kraft der Kriegsenkel. Wie Kriegsenkel heute ihr biografisches Erben erkennen und nutzen“ hoffen – und mehr noch das darin enthaltene Vorwort des Psychotherapeuten Peter Heinl, der verspricht, das Buch gewähre einen „faszinierenden Einblick, wie es gelingen kann, […] die […] Knoten und Netze der Verstrickung an die [sic!] Vergangenheit vorsichtig zu lösen […] und anstelle von Leidmodellen […] Leitmodelle anzubieten […]“, und ihm wünschte: „Möge [dieses Buch] zu einem Vademekum für den Aufbruch in ein neues erfülltes, den weiteren Lebensweg bestimmendes und erhellendes Lebensgefühl werden.“

Ein psychotherapeutischer Leitfaden also?

Mitnichten. Von Therapie ist im Buch auch an keiner Stelle die Rede. Vielmehr zeugt es vom guten Willen der Autorin, die als Psychotherapeutin mit dem Schwerpunkt auf Coaching arbeitet, etwas für die Kriegsenkel-Generation zu tun, der sie selber auch angehört6.

Recht gut gelungen ist Meyer-Legrand die Skizzierung der wesentlichen Thematiken der Kriegskinder- und Kriegsenkel-Generationen, wobei auch die Interdependenzen deutlich werden. Stark sind dabei die Beschreibungen der über die Generationen zwiespältigen Väter-Beziehungen („Nieten“) und des „imaginierten Auswegs aus der Unsicherheit“ jener lädierten Geschlechterrollen durch Flucht in die Familientraditionen der 50er-Jahre, der (zwanghaften) Loyalität der Kriegskinder / Kriegsenkel gegenüber ihren Müttern, des Schemas der Bindungsverpflichtung statt Bindungsfreiheit, der Gefühlsverschlossenheit der Kriegskinder und ihrer emotionalen Unerreichbarkeit, der auf die Kriegsenkel überkommenen 'Aufträge' wie Tilgung einer Schuld.

Den Kriegskindern ist verhältnismäßig viel Raum gewidmet, was der erklärten Zielsetzung des Buches nicht ganz entspricht. Diesen Kriegskinder-Passus mit seinen präzisen Eindrücken beschließt eine vergleichsweise heftige Anklage gegen die kriegsbetroffene Generation und deren Kriegskinder: Warum sich die Tätergeneration nicht mit ihrer Schuld und ihrem Erleben auseinandergesetzt habe? „Wir [sic!] hätten in einer menschlicheren Welt gelebt,“ identifiziert sich die Autorin. Und: „... warum schweigen diese ausgemachten Demokraten bis heute? […] Solange wird das Leid eher gefördert als verringert. […] Das ist die schwierige Gefühlserbschaft, mit der die Kriegsenkel von Kindesbeinen an zu tun haben.“ Ein solch emotionales Plädoyer verwundert dann doch und verrät, wie stark die Autorin selbst in die Kriegsenkel-Perspektive involviert ist.

Im Folgenden näht die Autorin dann eher mit loser Nadel:

Während einerseits das Schweigen der Kriegskinder kritisiert wird, ist an anderer Stelle Bedauern über „ungefiltertes Erzählen“ notiert. So gibt es mehrfach unhinterfragte Verallgemeinerungen, die an späterer Stelle fallweise wieder aufgehoben werden. Eine ist die These, die Kriegsenkel-Generation stehe für eine „Politik der ersten Person“, also für ein besonderes persönliches Engagement im Wertewandel durch Alternativbewegungen. Das aber ist so nicht haltbar: Man denke nur an die bereits in den 50er-Jahren erfolgten Proteste gegen die Wiederaufrüstung – das war die Kriegsgeneration! Und auch die 68er waren keine Kriegsenkel! Externes soziales oder politisches Engagement sagt außerdem nichts über den inneren Zustand eines Menschen aus; nicht selten kompensieren Menschen mit derartigem Einsatz innerfamiliäre Defizite und innere Leere.

Eine andere Behauptung, die Kriegsenkel-Generation habe „mittlerweile die Führungsetagen erreicht“, haben Frick/Baer widerlegt; Meyer-Legrand selbst zitiert die Stop-and-Go-(Un-)Karrieren der Kriegsenkel. Des Weiteren behauptet Meyer-Legrand für die Kriegsenkel die Fähigkeit, eine Wahlheimat schaffen zu können. Dagegen stehen die zahlreichen Beziehungsabbrüche dieser Generation: So erklärte der Autor Martin Rupps einmal, er fühle sich diesbezüglich wie „amputiert“ und geradezu „behindert“7. Gerade die Unfähigkeit zu Bindungen wird in der Literatur immer wieder als Problem der Kriegsenkel genannt. Derlei Widersprüche hätte die Autorin bewusst in Relation zueinander setzen können und müssen.

Ferner ist, bei aller Verführung des Ansatzes, auf die Kriegskinder/-enkelthematik eben nicht alles monokausal zurückzuführen. Das Phänomen der Hochsensibilität nimmt seinen Ausgang ganz sicher nicht in der Einfühlungsnotwendigkeit von Kriegskindern oder Kriegsenkeln seit dem Zweiten Weltkrieg ihren Eltern gegenüber, sondern es gab immer schon Menschen mit hochsensibler Begabung.

Ebensowenig ist das Bild der Kriegskinder und Kriegsenkel eindeutig, allein schon deswegen, weil ein bspw. fünfzehnjähriges Kriegskind eine Bombennacht vollkommen anders erlebt als ein Säugling. Das Generationen-“Typische“ wäre also hier zu relativieren gewesen.

Die inhaltlich etwas zu lockere Hand zeigt sich auch in allerlei Nachlässigkeiten8 und schließlich in der strukturellen Präsentation der beiden zentralen methodischen Bewältigungsansätze: Diese stehen nicht gleichberechtigt nebeneinander; das Genogramm ist lediglich Unterkapitel, dort aber ausführlich erklärt, My Life Storyboard taucht zwar als Kapitelüberschrift auf, ist aber einem Fallbeispiel beigeordnet.

Wie steht es nun um die Wirkung dieser beiden Methoden?

Das Genogramm holt Inspirationen bei mindestens drei Generationen, um Glaubenssätze, Deutungs- und Handlungsmuster der Familie sichtbar zu machen, und befragt sie auf Anwendbarkeit fürs eigene Leben respektive ihre Historizität. Auf diese Weise können Lebensstrategien der Ahnen gewürdigt oder verworfen und neue Perspektiven gegenüber den eingeschliffenen Erzählweisen generiert werden. Die „kalte Mutter“ erscheint dann vielleicht auch als gute Organisatorin oder als Mensch mit ungestillten Sehnsüchten; ihre Überlebensstrategie ist für den Kriegsenkel nachvollziehbar, aber in dessen eigenem Leben nicht mehr sinnvoll nutzbar.

Das Storyboard sucht die Gestaltung des eigenen Lebens im Spannungsfeld des Umfelds und der Zeitgeschichte zu verorten. Darunter fällt zum Beispiel die Würdigung der Entscheidung gegen einen festen Job und für einen alternativen, aber finanziell risikoreichen Lebensstil, verbunden etwa mit Langzeitstudium, was wiederum zeitkontextuiert einmal als erstrebenswert galt.

Solche Vergegenwärtigungen sollen helfen, festgefahrene Gewissheiten neu zu reflektieren, „ein attraktives Ziel zu entwickeln […] und Ressourcen aus der Vergangenheit für die Gestaltung der zukünftigen Situation zu nutzen.“

Eine derartige – Coaching-typische – positive Umwidmung der Vergangenheit enthebt sicher manchen Kriegsenkel von der weit verbreiteten Jammerhaltung und ermöglicht differenziertere, 'hellere' Blickweisen. Wichtig wäre in dem Zusammenhang des Weiteren jedoch, bspw. die im Rahmen von Parentifizierungen entstandenen Überlastungen nicht einfach zu übergehen nach dem Motto „Sieh es halt als Deine Stärke“; vielmehr müssen die eigenen Möglichkeiten und Grenzen erspürt und überhaupt ausgelotet werden. Erst das böte die Chance eines realistischen Umgangs mit Anforderungen, den Kriegskinder wie Kriegsenkel häufig nicht erlernt haben. Sonst gerät der allzu einfühlsame Kriegsenkel wieder ins gleiche Fallmuster wie zuvor.

Solche Modifizierungen werden in dem ausführlichen Fallbeispiel (Vera) ansatzweise angeführt, sind aber immer stark von Meyer-Legrand induziert: mehr Wunsch der Autorin als Wille der Klientin. Woran könnte das liegen?

Meyer-Legrands Ansatz ist pragmatisch und alltagsorientiert; die Schwierigkeit emotionaler Erreichbarkeit zwischen Kriegsenkeln und ihren Kriegskinder-Eltern fokussiert er nicht. Dies aber ist ein Kernproblem für die beiden Generationen, und es ist auch nicht zu überwinden, indem die Kompetenzen der Kriegsenkel in den Mittelpunkt gerückt werden; deshalb neigen Kriegsenkel dazu, auf der Stelle zu treten.

In einem Interview äußerte Meyer-Legrand: „Bei  mir  darf  das  Leid  so lange besprochen und betrauert werden, bis die verletzte Seite endlich gesehen wird.“9 Das Leid hat aber in dem Buch wenig Raum; im Fallbeispiel wird es geradezu stereotyp beantwortet. Dabei wäre es interessant gewesen, just aus dem Umgang mit diesem Manko zu versuchen, Stärke und Selbstwert zu generieren. Das bereits in seinen Potenzialen genutzte Erbe der Kriegsenkel noch einmal hervorzuheben und als Stärke darzustellen, ist dagegen auf eine Art tautologisch. Meyer-Legrand: „Ich frage meine Klienten nach den Ressourcen, die aus ihrer besonderen Geschichte erwachsen sind. Das macht sie stark."10 Das ist ein Irrtum; allein solche Fragen bzw. die Bewusstmachtung eigener Stärken machen Menschen noch nicht stark. Sie sind jedoch eine mögliche Voraussetzung für den Prozess, ins Umfeld die eigenen Stärken und ungestillten Bedürfnisse einbringen zu können – und diesen Raum müssen die Kriegsenkel sich schaffen. Zu diesem Prozess können die beiden Methoden beitragen.

  • 1. Kinder fungieren für ihre eigenen Eltern als Stützen und „beeltern“ diese – eine Umkehrung der Verhältnisse.
  • 2. Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern, München 1967; Alexander Mitscherlich: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, München 1963
  • 3. Bspw. Gruen: Verrat am Selbst, München 1984.
  • 4. Reddemann: Kriegskinder und Kriegsenkel in der Psychotherapie, Stuttgart 2015
  • 5. Baer/Frick-Baer: Kriegserbe in der Seele: Was Kindern und Enkeln der Kriegsgeneration wirklich hilft, Weinheim 2015
  • 6. Meyer-Legrand: Die Kraft der Kriegsenkel, S. 21 ff.
  • 7. Als Interviewpartner in Andreas Fischers Film „Generation Tri Top“ (2010)
  • 8. Das Literaturverzeichnis ist lückenhaft; es weist einen zitierten Titel der Autoren Bernd Roedel und I. Kellermann mit „XXX“ aus; ferner finden sich sprachliche Faux-pas („Inge hat sich als eine [sic!] der letzten Mitglieder ...“) usf..
  • 9. https://monikabirknerfreedombusiness.de/wp-content/uploads/2014/10/Meyer-Legrand_Interview.pdf, abgerufen am 29.01.2017
  • 10. Ebd.
Ingrid Meyer-Legrand
Die Kraft der Kriegsenkel
Wie Kriegsenkel heute ihr biografisches Erbe erkennen und nutzen
Europa Verlag Berlin
2016 · 256 Seiten · 18,99 Euro
ISBN:
978-3-95890-008-0

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