Anzeige
Heimat verhandeln V&R böhlau
x
Heimat verhandeln V&R böhlau
Kritik

Die Dummheit der Armen

Flandern und Niederlande - Gastland Frankfurter Buchmesse 2016
Hamburg

„Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen“. Dieser Satz wurde Marie Antoinette einst in den Mund gelegt, um damit ihre Arroganz und elitäre Abgehobenheit zu belegen. Er illustriert sehr gut das einstige Verhältnis einer kleinen Schicht Vermögender zur Masse der land-, arbeits- und geldlosen Armen nicht nur in Frankreich, sondern in allen Staaten Europas. Während diese für sich selbst Reichtum und Macht als rechtmäßig und gottgegeben betrachteten, blickte man geringschätzig auf jene, die nichts hatten, und sparte nicht mit Verantwortungszuweisungen: Die Armen seien selbst Schuld an ihrer elenden Lage, seien arbeitsscheu, ihnen fehle jede Bereitschaft, sich anzustrengen. Oder im Kurzschluss: Arme seien einfach dumm. Und wenn man sich in unseren Tagen umhört, so meint man manchmal, allzu weit hätten wir uns von diesem Kurzschluss „arm=dumm“ noch nicht entfernt. Denn jeder könne, wenn er nur wolle, doch weil er nicht wolle, könne er eben nicht, aufsteigen nämlich und „es schaffen“, denn das Glück winke schließlich allein dem Tüchtigen, undsoweiterundsofort.

Die Journalistin Suzanna Jansen schreibt in „Das Paradies der Armen“ anhand ihrer eigenen, mitreißend erzählten Familiengeschichte gegen dieses Vorurteil an und hat ein Zitat Orhan Pamuks aus seinem Buch „Schnee“ vorangestellt:

Wir sind nicht dumm! Wir sind bloß arm!
Immer sind Armut und Dummheit verwechselt worden.

Am Anfang stand ein Zufallsfund. Als Suzanna Jansen ihren Eltern beim Aufräumen des Dachbodens half, fand sie ein Totenbild ihrer Urgroßmutter Helena. Da die spärlichen Angaben auf dem Bild im Abgleich mit den wenigen Erinnerungen der eigenen Mutter zahlreiche Fragen aufkeimen ließen, begann Jansen Familienmythen zu hinterfragen, nach Wahrheiten zu suchen und akribisch die Chronik ihrer Vorfahren zu rekonstruieren. Es waren Menschen, die immer zu den Armen gezählt hatten, deren Leben nur selten in der Geschichtsschreibung Beachtung finden. Das Ergebnis von Jansens Forschungen ist weit mehr als eine private Geschichte. Es ist auch eine Erzählung über erste soziale Experimente, deren Ziel es war, aus sogenannten primitiven Armen wertvolle Mitglieder der Gesellschaft zu formen. Vorreiter war General Johannes van den Bosch, der, aus begüterter Familie kommend, eine rasche diplomatische und soldatische Karriere hingelegt hatte. Sein Ehrgeiz war es, die Armut in den Niederlanden auszurotten. Ziel war die Errichtung einer Allgemeinen Armenanstalt im schlecht erschlossenen Norden des Landes, eine Landbaukolonie, in der die Armen der Stadt das Bauernhandwerk lernen sollten. Van den Bosch war überzeugt, dass der Mensch Produkt seiner Umgebung sei und man die Armen durch gesunde Arbeit, Erziehung und Schulung auf eine höhere sittliche Ebene heben könne, was automatisch das Ende ihres Elends bedeuten würde. Das ursprüngliche Vorhaben scheiterte letztendlich am nicht verfügbaren Geld. Der General redimensionierte seine Pläne und gründete 1823 eine neue „unfreie“ Kolonie, die Bettleranstalt von Veenhuizen, drei identische, kasernenartige Gebäude, sogenannte Anstalten, die zu einem Sammelbecken hoffnungsloser Fälle wurden, Waisen, Bettler und Landstreicher aufnahmen, sowie alle Armen, die häufig kinderreich und ohne Hoffnung waren, jemals selbst für sich sorgen zu können. Die Internierten sollten hier mit militärischen Mitteln umerzogen werden und lernen, sich anzupassen und brauchbare Mitglieder der Gesellschaft zu werden. Rund 150 Jahre währte die wechselvolle Geschichte dieses Sozialexperiments, bis schließlich 1973 der letzte Landstreicher das Areal verließ. Heute ist von dem ursprünglichen Gebäudekomplex nur mehr die Anstalt Nummer zwei erhalten, in der sich ein Museum befindet.

Jansens Familiengeschichte beginnt mit ihrem Urahn Tobias, Helenas Großvater, der 1785 in eine Handwerkerfamilie geboren wurde und sich 1803, 10 Jahre nach Marie Antoinettes Hinrichtung, freiwillig als Berufssoldat zum Dienst in der holländischen Armee verpflichtete. In den Napoleonischen Kriegen mehrmals verwundet, wird Tobias als Kriegsinvalider schließlich für den Rest seines Lebens nach Veenhuizen versetzt, um dort Bettler zu beaufsichtigen. Für drei Generationen der Familie wird Veenhuizen Existenzmittelpunkt. Die wenigen Vorrechte, die Tobias als Aufseher anfänglich noch genießt, gehen bald verloren. Statt sie zur Selbständigkeit zu ermächtigen, werden die BewohnerInnen interniert, eine Zeit lang sogar nach Geschlecht separiert, was Familien jäh auseinander riss, und zu einem kargen, rechtlosen Dasein in bitterer Armut verdammt. Die schulische Ausbildung der Kinder war auf dem Papier vorgesehen, doch äußerst mangelhaft. Oft arbeiteten sie von klein auf, ohne je einen Beruf zu erlernen. Versuche, anderswo ein neues Leben zu beginnen, scheiterten meist. Das hatte auch mit dem schlechten Ruf von Veenhuizen zu tun. Den Insassen wurde eine sittenlose und lasterhafte Lebensart vorgeworfen, Unzucht, Verbrechen und Diebstahl seien den Menschen hier zur Gewohnheit geworden, so ein Pfarrer Mitte des 19. Jahrhunderts. Das mag damit zusammenhängen, dass auch zunehmend Strafgefangene hier Aufnahme fanden. 1859 wurde Veenhuizen schließlich vom Königreich übernommen und fortan als „Reichsarbeitanstalt“ geführt. 1861 verließen Jansens Vorfahren den Ort mit der vagen Hoffnung auf eine bessere Zukunft und siedelten sich in einem heruntergekommenen Arbeiterviertel Amsterdams an.

Suzanne Jansen erzählt ihr Buch entlang der Biografien starker Frauen, die ihr Leben im engen Rahmen des Möglichen in die Hand nahmen, zahlreiche Kinder zur Welt brachten, unter kläglichen Bedingungen schufteten und versuchten, ihre Familien irgendwie durchzubringen, was nur mit Hilfe der Armenfürsorge möglich war. Ihre Männer hingegen trugen meist wenig zum Kampf ums täglich Überleben bei. So war Helenas Mann Alkoholiker, der oft für längere Zeit verschwand und mehrmals mit dem Gesetz in Konflikt kam, was ihn wiederum zurück in die Strafanstalt Veenhuizen brachte. Als Ausweg sah Helena unter anderem Klöster, denen sie einige ihrer Töchter als Nonnen zuführte, um sie versorgt zu wissen. Erst ihre Tochter Roza durchbrach auf Anraten eines Priesters den Kreislauf aus vererbter Armut, fehlender Berufsausbildung und prekären sozialen Verhältnissen und ermöglichte ihren beiden erstgeborenen Töchtern unter großen Entbehrungen eine weiterführende Schulbildung, was diesen erstmals in der Familie ein geregeltes, höheres Gehalt einbrachte. Ihren anderen Kindern blieb dieser Weg verbaut, weil das Geld für die Ausbildung aller nicht reichte.

Rozas Zweitgeborene ist Suzanna Jansens Mutter, die gemeinsam mit ihrem Mann den Aufstieg in ein normales Leben geschafft hat. Und doch blieb das Stigma der Armut. Obwohl ihre Töchter offensichtlich intelligent waren, rieten die Lehrerinnen vom Besuch des Gymnasiums ab.

Für Mädchen aus unserem Milieu kam ein voruniversitärer Bildungsgang einfach nicht infrage – das war in den Sechzigerjahren ganz normal. Aber als meine Eltern sahen, dass es meine Schwestern über Umwege doch an die Uni schafften, kamen ihnen Zweifel an der Richtigkeit der Empfehlung der Lehrerin. Nachdem sie sich gründlich über alle Schulungsmöglichkeiten informiert hatten, brachen sie mit der Tradition: Sie schickten mich ins Gymnasium ... Das war der entscheidende Moment, in dem sie das Joch der Armut, unter dem die Familie seit Generationen gebückt ging, endgültig abschüttelten.

Jansen hat ein reichhaltiges, lebendig erzähltes Buch vorgelegt, das in den Niederlanden bereits 2008 unter dem „Het pauperparadijs“ erschienen ist und nun von Andrea Prins ins Deutsche übersetzt wurde. Es ist eine persönliche Geschichte der Armut und der Familientraumata, die von Anfang an aus Scham und Angst mit Mythen verbrämt wurden. Gleichzeitig ist es eine Sozialgeschichte der Armut im 19. und 20. Jahrhundert, nicht nur in den Niederlanden. Dort wo familiäre Fakten fehlen, weil arme Menschen selten Aufzeichnungen machen, flechtet die Autorin ihre Rechercheergebnisse ein, etwa persönliche Berichte von Zeitzeugen über Veenhuizen, das Leben der Dienstboten, kirchliche Wohlfahrt oder das allmählich sich etablierende, Klienten anfangs stark bevormundende öffentliche Fürsorgesystem. Man kann und muss die Entwicklungen auf staatlicher wie persönlicher Ebene als Erfolgsgeschichte lesen, die auch eine der Bildung ist. Doch obwohl Jansens Eltern das Joch der Armut abschüttelten, bleibt dieses Joch Bestandteil nicht nur der Familiengeschichte, sondern auch Teil jedes einzelnen Familienmitglieds. Sie habe Armut erlebt, sagte Jansen leidenschaftlich in einem Gespräch während unserer Pressereise, dieses Gefühl der Armut habe ihr ganzes Leben durchdrungen und sie sei, obwohl nicht arm, noch nicht frei davon, werde niemals davon frei sein, auch nicht von der Scham, die damit einhergehe. Erst ihre Tochter werde einst ein Leben ohne diesen Ballast der Armut führen können.

Nicht zuletzt aber steht nach der Lektüre die Frage im Raum, wie wir heute in Europa und anderswo mit Armut umgehen, auf welcher Seite wir stehen und auf welche wir gestellt werden oder uns stellen lassen, welche Maßnahmen ergriffen und unterlassen werden, welche Schuldzuweisungen wir treffen und welchen Vokabulars wir uns hierbei bedienen.

Suzanna Jansen
Das Paradies der Armen
Eine Familiengeschichte
Übersetzung:
Andrea Prins
Nachwort: Geert Mak
Theiss
2016 · 286 Seiten · 24,95 Euro
ISBN:
9783806232974

Fixpoetry 2016
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge