Das alte Paar und das Meer
Man möchte den Liebsten packen und sofort hinfahren zu den rosenfarbenen Felsbrocken der Cote de granit rose oder zu der sichelförmigen Landzunge aus Sand und Kieseln Le sillon de talbert im westlichsten Zipfel von Frankreich, der Bretagne.
Irène Bourquin und Oskar Pfenninger haben das getan. Sie ist 60 und er 80 Jahre alt. Ein altes Paar, das aber noch nicht lange zusammen ist. Beide Lyriker aus der Schweiz, Hausautoren des kleinen feinen Waldgut Verlages. Das Paar wohnt im Alltag getrennt. Im Herbst unlängst aber haben die beiden sich gemeinsam auf den Weg in die Bretagne gemacht. Sie kann dort das Haus ihres Onkels nutzen, ganz in der Nähe hatte ihr Freund Pfenninger vor 30 Jahren mit seiner japanischen Frau und den gemeinsamen Kindern gezeltet. Den Erinnerungen des anderen können sie nun gemeinsame hinzufügen. In dem schmalen Bändchen „Herbstflut“ haben sie die Erlebnisse niedergeschrieben. Mehrfach das gleiche Erleben jeder aus seiner Sicht. Ein sehr reizvolles Unterfangen. Ihr bleibt von dem Gang auf der Sillon de talbert, der drei Kilometer langen Kiesellandzunge am Ärmelkanal, eine Narbe am Schienbein. Auf dem Rückweg, es ist schon dunkel, haben sie sich in einem Draht verfangen, der den Dünenbewuchs schützen soll. Er schreibt, was sie denkt: Jetzt nur nicht stürzen. Er stürzt und sie schneidet sich an dem durch seinen Sturz aufschnellenden Draht. Sie hofft, dass die Narbe bleiben wird, als Erinnerung an die gemeinsame Eroberung der Landzunge. Ein ins Fleisch geschnittenes Souvenir.
Das Paar lässt sich gegenseitig Raum. Wenn sie länger schläft, geht er an den Strand. Wo sie am Abend war, um ihm das Alleinsein zu lassen. Sie hat ihm einen Zettel geschrieben, dass Kaninchenjagd ist und der Spaziergänger aufzupassen hat. Er schaut zu, wenn sie in dem herbstlich eiskalten Wasser baden geht. Sie sieht mit Rührung sein Hörgerät auf dem Nachttisch in seinem „Bettchen“ ruhen. Wenn er in alte Erinnerungen an Japan versinkt, wo er viele Jahre gelebt hat, ruft sie ihn zurück: „Du bist jetzt hier (…) nicht in Japan“. Diese Sequenz notiert er, nicht sie. Er lässt sich zurückrufen, die Gegenwart hat ihr Recht.
Doch als er den Zeltplatz aufsucht, auf dem er und seine Familie von 30 Jahren waren, gestattet sie ihm die Erinnerungen und geht weiter. Bald darauf sucht er die Freundin und kann sie an dem menschenleeren Strand nicht finden. Er ruft sie. Ein Angler zeigt auf eine entfernte Gestalt in blauem Anorak. Blau ist ihre Lieblingsfarbe. Er läuft ihr nach, doch der Abstand zwischen ihnen bleibt gleich. Er ruft ihren Namen, doch „der Wind blies ihm ins Gesicht“ und sie konnte ihn nicht hören. Als er sie endlich einholt, beschwert er sich „Du bist vor mir weggelaufen und hast nie zurückgeblickt!“ Sie sagte, sie hätte gedacht, er wolle Alleinsein. In dieser scheinbar kleinen Begebenheit drängt sich vieles zusammen: Ihre Rücksichtnahme auf seine Erinnerungen. Seine Angst, als sie scheinbar vor ihm wegläuft ohne sich umzudrehen, dass der Abstand zwischen ihnen gleich bleibt, wie die 20 Jahre zwischen ihnen.
Der Ältere bekennt seine Angst, sie zu verlieren. In dem titelgebenden Erlebnis der Herbstflut geht jeder seinen Weg, die Flut zu erleben. Bei beiden ist es auch ein Hörerlebnis. Er an „seinem“ Stand und zwischen den überfluteten Wiesen lauscht dem „Rauschen, Plätschern Gurgeln der schwarzen Wassermassen“. Sie fährt mit dem Auto eine Küstenstraße entlang, wo sie einen Strand mit farbigen Muscheln entdeckt. Ein Schild verbietet den Strandwanderern, die schönen Muscheln einzustecken. Sie tut es trotzdem und hört, wie die Flut mit den Muscheln klappert. Dann sieht sie, wie in einem Betrieb die Muscheln zermahlen werden, wohl als dekoratives Material für den Gartenbau. Sie hatte versprochen ihm an seinen Strand zu folgen. Als sie nicht kommt, überfallen ihn gleich Schreckensbilder von einem Unfall. Er sucht sie im Ort. Sie sucht ihn am Strand. Am Haus treffen sie aufeinander: erleichtert umarmen sie sich. In dieser Episode wird der Kosmos der „Liebesgeschichte“, wie der Band untertitelt, angedeutet: Der Wunsch, auch in einer Beziehung seine eigenen Erlebnisse zu wahren, die Furcht, die Liebe könnte (durch einen Unfall)zu Ende sein, die Erleichterung und Freude, sich wiederzuhaben. Hier ist das doppelte Erzählen auf seinem Höhepunkt. Hier hat sich der Leser auch inzwischen daran gewöhnt, dass die Erzählweise etwas sperrig ist. Beide sprechen von sich in der dritten Person, er oder sie. Und der andere heißt die „Freundin“, der „Gefährte“. Da beider Sprachstil so unterschiedlich nicht ist und die Episoden nicht gekennzeichnet, aus wessen Sicht gesprochen wird, muss der Leser oft im Inhaltsverzeichnis nachschlagen, wer was geschrieben hat.
Kostbar wird der schmale Band des Schweizerischen Waldgut Verlages – der auf seiner Website sogar launig die Verlagskatze präsentiert – durch den handgesetzten Umschlag auf Werkpapier, ein Vergnügen für Augen und Fingerspitzen, die spüren: dieses Buch wurde mit Liebe gemacht.
Fixpoetry 2013
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