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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
Kritik

Eine junge Frau zur Zeit der Wirtschaftskrise

Hamburg

In Israel lernte ich Gilgi kennen. Ihr Vater hatte sie auf diesen Namen taufen lassen, nachdem er den ersten Roman von Irmgard Keun gelesen hatte, 1931 erschienenen. Ein zwingender Grund für mich, dieses Buch wieder zu lesen.

Die Roman-Gilgi heißt eigentlich Gisela Kron und ist ein selbstständiges Mädchen von 20 Jahren. Noch lebt sie bei ihren Eltern. Die Mutter ist Hamburgerin, ahmt aber den kölnischen Dialekt ihres Mannes nach. Gilgis Verhältnis zu den Eltern, insbesondere zum Vater, ist distanziert.

Während viele Menschen arbeitslos sind, ist sie mit ihrem Posten als Stenotypistin zufrieden, lernt neben ihrer Arbeit Fremdsprachen in Abendkursen. Und vor allem ist sie bedingungslos optimistisch. Zu ihrer Freundin Olga sagt sie: „Du brauchst mich nicht zu bedauern, ich find’ mein Leben herrlich. Es macht mir Freude, was zu schaffen. Wenn mir heut’ einer eine Million schenkte, ich – würd’ sie nehmen, hätt’ aber gar nicht so furchtbar viel Spaß daran. Es macht mir Freude, aus eigener Kraft weiterzukommen.“ Zudem kennt sie ihre Fähigkeiten, Möglichkeiten und Grenzen.

Am Morgen ihres 21. Geburtstags wird Gilgi von ihrer Mutter mit dem Geständnis geweckt, dass sie ein Adoptivkind ist. Ihre wahre Mutter sei ein Fräulein Täschler. Gilgi möchte mehr erfahren und besucht die in ärmlichen Verhältnissen lebende Schneiderin. Nein, sie möchte kein neues Kleid. Der Frau ging es einst besser, als sie in einem wohlhabenden Haushalt arbeitete. Denn die tatsächliche Mutter ist Magdalene Greif. Um nicht bei ihrer bevorstehenden Hochzeit mit einem unehelichen Kind kompromittiert zu werden, wurde das Baby dem Fräulein Täschler unterschoben.

Als Gilgi den um 22 Jahre älteren Martin Bruck kennen und lieben lernt, einen Lebenskünstler, der in Kolumbien von einem Krokodil ins Bein gebissen wurde und bedenkenlos Schulden anhäuft, das Geld mit beiden Händen zum Fenster hinausschmeißt, ändert sich ihr Leben. Nach einem Streit mit ihren Zieheltern zieht sie bei Martin ein. Er möchte sie mit Literatur und einem lockeren, damenhaften Leben vertraut machen, verwöhnt sie mit Geschenken, dagegen möchte sie ihn zu mehr Gewissenhaftigkeit sowie einer bürgerlichen Ordnung erziehen.

Überaus präzis und detailreich beschreibt Irmgard Keun ihre Personen. Mitunter vermittelt sich dem Leser der Eindruck, dass die Autorin mit ihrer Protagonistin zu einer Einheit verschmilzt, wenn Martin von Gilgi charakterisiert wird: „Er hat so nachdenkliche Hände, dünne, zerbrechliche Finger.“ Gekonnt integriert die Autorin in ihre Erzählung sowohl poetische als auch witzige Sätze: „Und da wickelt man sich zwei Sonnenstrahlen um die Handgelenke.“ ihre Freundin Olga, die „Dame“, sagt: „Gott, ich leb’ hier wie ’n Trappistenmönch plus Benediktinernonne – dacht’ ich: amüsierst dich mal ein bisschen.“ Dagegen beschwert sich der Ästhet Martin: „Aus Fischgeschäften strömt der Rachegestank silberbäuchiger Hechte und Schellfische.“

Gilgi wird von Martin schwanger. Abtreiben kommt für sie nicht infrage. Jedoch verschweigt sie Martin ihren Zustand.

Eines Tages taucht Hans Hansen auf; der ehemalige Liebhaber Gilgis, ist in Deutschlands Wirtschaftskrise arbeitslos geworden, versucht als Hausierer seine Frau und die zwei Kinder durchzubringen. Sehr eindringlich beschreibt Irmgard Keun die Not der Menschen, die Ausweglosigkeit, den Lebensunterhalt verdienen zu können. Inzwischen wurde auch Gilgi von ihrem Arbeitgeber gekündigt, muss jede Wochen „stempeln“ gehen, um Arbeitslosengeld zu bekommen, nachdem Herr Reuter zuvor versucht hatte, sie als Geliebte zu ködern. Er hatte sie ins Domhotel eingeladen: „Gilgi hat das Gefühl, zu Abend gegessen, Herr Reuter das Gefühl, soupiert zu haben.“

Scharfe Gesellschaftskritik steckt in diesem Roman, der zu einer Zeit der Krise geschrieben wurde. Zwei Jahre später wird Hitler die Macht übernehmen. Im Erscheinungsjahr wurden von „Gilgi“ 30.000 Exemplare verkauft. Und die sozialdemokratische Zeitung „Vorwärts“ druckte das Buch 1932 in Fortsetzungen ab.

Nachdem Hans Hansen einen Wechsel gefälscht hat, droht ihm Gefängnis. Gilgi setzt alles daran, ihn davor zu bewahren, hebt alles Geld von ihrem Konto ab und sucht zum ersten und einzigen Mal ihre richtige Mutter auf. Sie fordert von ihr Geld, aber nicht für sich, sondern für Hans. Die Mutter zieht ihre kostbaren Ringe von ihren Fingern, mit denen ihr Mann sie immer dann beschenkte, wenn er sie mit einer anderen betrogen hatte. Gilgi will die Ringe versetzen.

Allerdings ist es bereits zu spät: Hans Hansen hat sich, seine Frau Hertha und die beiden Kinder mit Gas vergiftet. „Elend lässt die Liebe verkümmern.“

Gilgi verlässt schließlich Martin, obwohl sie ihn noch immer sehr liebt, und fährt nach Berlin. Ihr Kind will sie allein aufziehen, will wieder „eine von uns sein“, und „ihre Pflicht“ erfüllen.

Irmgard Keun
Gilgi - eine von uns
Ullstein
2002 · 9,99 Euro
ISBN:
13 9783548602677

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