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Kritik

Der Schelm als Kind

"Kind aller Länder", Irmgard Keuns Schlüsselroman über Joseph Roth, ist wiederzuentdecken
Hamburg

Sie ist zehn Jahre alt und ihr Vater lässt sie als Geisel in einem Restaurant sitzen, weil er die Rechnung nicht bezahlen kann. Ebenso bleiben Mutter und Tochter in den Hotels in Ostende, Lemberg, Salzburg, Paris, wenn der Vater in Europa unterwegs ist, um das Geld für die Hotelrechnung aufzutreiben.

Irmgard Keuns Exilroman „Kind aller Länder“ ist von Kiepenheuer & Witsch neu aufgelegt worden. Sie schrieb ihn 1938, in einer Zeit, als sie für zwei Jahre mit Joseph Roth im Exil in Ostende lebte und beide um die Wette schrieben. So wird das Ehepaar in Keuns Roman stets mit ihr und Roth gleichgesetzt. Ein gemeinsames Kind, eine Kully, die Heldin des Romans, gab es damals nicht. So steckt in Kully vielleicht Irmgard Keun selbst, um aus dieser Sicht die absurden Situationen in allen Ländern zu beschreiben, als wäre alles ganz normal. Es ist eine Schelmensicht, die sich des Kindlichen bedient. Eine Kunstform, denn zum Wortschatz einer 10-Jährigen, selbst wenn sie drei Sprachen spricht – ob das stimmt, Vorsicht! Sie ist die Tochter ihres Vaters – gehört das Wort Œuvre sehr wahrscheinlich nicht. Also keine Kindersprache, keine Kindersicht im herkömmlichen Sinn, sondern eine Schelmensicht. Aus dieser Sicht kann unaufgeregt erzählt werden, dass der Vater, wenn er denn doch mal Geld hat, es in Champagner umsetzt, während im Hotel die Frau mit der unbezahlten Rechnung sitzt. Dass der bewunderte Vater überall Frauen hat, schöne Frauen, wie Kully findet, und sich die Mutter die Augen aus dem Kopf weint, wenn sie sich nicht auch mal für jemanden hübsch macht. Oder, als die Familie nach Amerika fahren will, die Mutter einfach vergessen wird und Kully vorschlagen kann, dass sie sich doch den netten Agenten des Vaters ins Bett nehmen soll, jetzt, wo Kully nicht an ihrer Seite liegen kann. Und zur Schelmensicht passt auch, dass das politische Geschehen in lapidaren Nebensätzen erzählt wird:

Ganz früh am Morgen war meine Mutter schon aufgestanden, aus Unruhe und um runterzugehen und nach dem Krieg zu sehen.

Oder eine Stimmung zu vermitteln, aus der der Leser ebenfalls auf die politische Stimmung rückschließen kann:

In der Nacht fing die Welt an zu schreien.

Am nächsten Tag stellt sich das Weltgeschrei als eine Ausstellung von Hähnen vor dem Hotel heraus. Doch der Satz sitzt schon im Kopf des Lesers, der als Leser eines Schelmenromans weiß, hier schwingt mehr mit, als Kully erzählt. Sie können nicht in dem Land leben, in dem der Vater als Schriftsteller berühmt geworden war, aber in dem Land, in dem sie gerade sind, können sie auch nicht bleiben. So sind sie ständig auf der Flucht. Jeder Beginn einer Reise wird von Kully freudig aufgenommen, es geht weiter, es wird besser. Das Vertrauen in den Vater ist grenzenlos, er wird irgendwo Geld auftreiben und sie auslösen, wenn sie mit ihrer Mutter mal wieder in einem Hotel samt unbezahlter Rechnung festsitzt. Das Kind kooperiert. Es hält zu beiden. Und als Kully vom Vater nach Europa geschickt wird, die Mutter zu holen, während er in Amerika „ein Leben für uns aufbaut“ , steht sie bei dem Kapitän auf der Kommandobrücke und streckt die Arme aus, so lang

dass ich links Amerika mit meinem Vater und rechts Europa mit meiner Mutter anfassen könnte.

Nur eins kann Kully aus dem Gleichgewicht bringen – dass da ein „anderes“ Kind kommen soll (von dem nicht sicher ist, ob es vom Vater ist). Dieser Erzählstrang wird von Irmgard Keun nicht verfolgt. Eine Schwäche dieses kleinen Romans? Oder konsequent, weil Kully ja doch die Tochter ihres Vaters ist, der ausblendet, was ihn stört. Ganz kurz, auf einer halben Seite, deutet sich plötzlich ein Familienidyll an. Die Familie mietet sich zwei Zimmer, die Mutter kauft voller Elan Töpfe und kocht für die Familie, wenn auch nicht perfekt:

Ich habe sie noch nie so glücklich gesehen

sagt Kully. Schon am Abend kommt der Vater ganz aufgeregt mit anderen Plänen. Und weiter geht’s. Natürlich treffen zwei Umstände zusammen, der politische, dass der Vater aus seinem Land geht, weil er nicht mehr veröffentlichen kann und der menschliche, dass dieser Vater ein Filou ist, aber einer, der immer wieder kommt und doch irgendwo wieder Geld auftreibt. Das ist die Verlässlichkeit für Kully, der Vater hat für alles eine Lösung, auch für den Fall, dass es nicht mehr weitergeht. Für diesen Fall hat er einen Revolver, mit dem

schießt er uns tot. Dann kann uns nichts mehr passieren.

Es ist der Irmgard Keun-Sound, der es möglich macht, das Schwere leicht zu sagen.

 

Irmgard Keun
Kind aller Länder
Kiepenheuer & Witsch
2016 · 224 Seiten · 17,99 Euro
ISBN:
978-3-462-04897-1

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