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Kritik

Morgenröthe// Joseph Roth

Besichtigung eines Werkes von Wolfgang Müller-Funk
Hamburg

Wolfgang Müller-Funk ist der derzeit vielleicht einzige Philologe Österreichs, der weit über die Fachgrenzen wirklich bekannt ist. Versiert als Theoretiker und ein Kenner der exegetischen Praxis gelingt ihm dabei – und zwar auch im neuen Buch wieder, das eine lesenswert erweiterte Ausgabe einer Roth-Pflichtlektüre von 1989 ist –, verschiedene Felder aufeinander zu beziehen: zu aller Gewinn. Wo also andere sich auf die Theorie konzentrieren, lebt diese bei Müller-Funk in der Leichtigkeit auf, mit der er sie andeutet und dann einzig sinnvoll, nämlich aus ihr eine Praxis generierend, realisiert; und akkurater als mancher Positivismus, der sich hinter vermeintlichen Faktenlagen vornehmlich verstecken will, sind seine reflektierten Lektüren allemal.

So geht bei ihm das Werk Joseph Roths auf, eine Morgenröthe aus dem Osten sozusagen, an dem Müller-Funk postcolonial argumentiert, genauer: zeigt, wie Joseph Roth selbst einen akkuraten Sinn für Peripherie und Zentrum hat, nämlich immer aufs Neue aus der Sprache entwickelt.

Dabei ist Roth kein „Chronist”, aber auch nicht nur „Mythomane” (11), wie gezeigt wird, oder: eines im anderen, da der Chronist sein Narrativ wohl hat und der Mythomane zugleich etwas von der Historie verstanden hat, nämlich, so Müller-Funk mit Veyne, daß diese sich umschreibt und umgeschrieben werden will. (26)

So wird mit großer Akribie diesen Texten nachgegangen, Motive entlang, die der Verfasser souverän arrangiert, um im close reading doch jedes Stereotyp zu meiden, das sich aus dem großen Ganzen entwickelte. Dies verdankt Müller-Funk freilich auch seiner Sensibilität, geschult unter
anderem an Bhabha, den er kritisch miteinbezieht. (z.B. 149) Eines dieser Motive ist das Hotel. Es ist Nomadentum, es ist „wie ein Vaterland” (Roth, zit. 47), es ist Noblesse und Elend, zuletzt aber klösterlich. Hier, beim Bild des „modernen Mönch(s)” (48), der Universalist in einer neuen stabilitas loci ist, da Roth seinen Hotels treu bleibt und in ihnen eine Kontinuität entdeckt, die man zwischen Wohnungen nicht hätte, findet Roths Biograph und Deuter beispielsweise gerade ins Herz dieses Schriftstellers.

Dies gelingt ihm wiederholt, es ist aufregend, Literatur und ihre Theorie fast schon ein momentanes Drittes entwickeln zu sehen, wobei dieses Buch ein Lehrstück zu Roth, zu Theorie und zur Literatur zugleich ist. Dabei verwandeln sich alle, indem sie miteinander interagieren –
eine Sonderform der Hybridität, die „das passende und zugleich unpassende Stichwort” (193) für das ist, was Roth beschrieb, als Desillusionierter, der doch nicht den Zynismus der Nüchternheit lebt, sondern Melancholiker ist. Denn die Peripherie schafft in der Assimilation, die mehrfach und teils eher retrospektiv ist, nicht Dichotomien, sondern eben auch ein Eigenes, etwas, das die unterstellte Posteriorität der Provinz fast umzukehren weiß, die Metropole als Knotenpunkt unter anderen sowohl sieht als auch reformuliert, die sich ihrerseits emanzipieren. Man könnte an dieser Stelle durchaus umfangreich auf Serres’ Elemente einer Geschichte der Wissenschaften eingehen.

So wird jedenfalls durch Roth das post-kakanische Rhizom lesbar, aber auch durch den post-kakanischen Diskurs Roths Textlabyrinth erschlossen. Eine gewisse (Quasi-)Dialektik ist freilich auch dem Buch Müller-Funks eigen – der sich ein prima vista nicht zentrales Thema
wählte, das freilich mehr Leser verdiente, als nur jene, die eine kompetente Einleitung in Roth und sein Schaffen suchen. Jenen ist das Buch ohnehin vorbehaltlos zu empfehlen, dieses Buch aber ferner auch jedem, der die Intelligenz eines Textes zu schätzen weiß oder schätzen zu wissen lernen möchte – und dann von diesem Band vielleicht verführt wird, für sich auch Roth (wieder) zu entdecken.

Wolfgang Müller-Funk
Joseph Roth
Sonderzahl
2012 · 204 Seiten · 18,00 Euro
ISBN:
978-3-854493723

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