Binde zwei Vögel zusammen
Isabelle Lehns Roman lässt mich nach der Lektüre ein wenig ratlos zurück. War ich noch überzeugt von dem Auszug, den sie dieses Jahr bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt vorlas, entsteht nun, nach der kompletten Lektüre, eine merkwürdige Leere. Liegt es am Thema, liegt es an dem Gefühl, dass aus vielen starken Eindrücken kein überzeugendes großes Ganzes entsteht?
Der Inhalt, das Szenario, das Lehn wählt, ist interessant: Ein Journalist um die Dreißig möchte endlich eine spektakuläre Geschichte schreiben und verdingt sich für sechs Wochen als Statist in einem Camp, in dem US-amerikanische Soldaten für Kriegseinsätze im Nahen Osten trainieren. Eine Recherchereise, bei der er auch noch gutes Geld verdient, kommt ihm, der oft nur kleine Beiträge fürs Stadtmagazin schreibt und mehr schlecht als recht über die Runden kommt, gerade recht. Sechs Wochen agiert er als Aladdin, der ein Café in einem nachgestellten Dorf in Afghanistan betreibt, das in Wirklichkeit in der bayrischen Provinz liegt. Als Aladdin hat er eine Ehefrau und drei Kinder. Alle Statisten sind von der Außenwelt komplett abgeschlossen. Alkohol und Drogen sind verboten. Auch Handys sind nicht erlaubt, Briefe werden zensiert. Nichts soll nach außen dringen. Die Dorfbewohner müssen eine Art Geschirr mit Sensor tragen, welches sie überwacht und anzeigt, ob sie beispielsweise von Schüssen getroffen wurden. Übernachtet und gegessen wird in großen Gemeinschaftsunterkünften.
Unser Dorf muss belebt aussehen, so lautet die erste Regel des Spiels, in dem wir Figuren sind und zu tanzen beginnen, sobald jemand einen Blick auf uns wirft. Der Supervisor läuft durch die Straßen. Dorfleben! ruft er und rudert mit den Armen, Dorfleben!, und eine Welle breitet sich aus, die wir weitertragen, durch die Straßen in die Häuser hinein, wo ihr Echo lustlos verhallt.
In der Realität gibt es diese Camps tatsächlich. Im bayrischen Hohenfels etwa führt die US-Army in einem nachgestellten Dorf ihre Übungseinsätze durch. Dabei spielen angeheuerte Statisten, sogenannte CoB – Civilian on the Battlefield, die Bevölkerung eines jeweiligen Kriegsgebiets. Es gibt Castings für diese Einsätze, Zielgruppe sind Studenten und Arbeitslose. Die Bezahlung für sechs Wochen ist gut. Manche halten jedoch nicht durch, andere kommen immer wieder. Einige Statisten werden gar vom Jobcenter geschickt.
Isabelle Lehn balanciert mit ihrer Geschichte oft auf einem schmalen Grad zwischen Reportage und Roman. Was anfangs vielversprechend und spannend beginnt, entwickelt sich im Laufe des Lesens stark in Richtung eines gut recherchierten Berichts über aktuelle Kriegsszenarien und die Flüchtlingskrise. So reiht Lehn seitenweise Schlagzeilen von Kriegsschauplätzen und anderen Katastrophenmeldungen aneinander, zitiert aus YouTube-Beiträgen über entsprechende Camps, und flicht Zeilen aus einem Roman von Elisabeth Langgässer ein, der im Jahr 1936 erschien und der erst im Anhang namentlich genannt wird. Diese Auszüge finden sich zunächst ohne Erklärung, ohne direkte Verbindung kursiv gedruckt mitten in der eigentlichen Geschichte.
Gleichzeitig schickt uns die Autorin in die Zwischenwelt, in die ihr Protagonist Albert mehr und mehr hineinrutscht. Der nämlich identifiziert sich nach seiner Rückkehr immer stärker mit Aladdin. Albert ist zutiefst traumatisiert von den Vorgängen im Lager, die er, im „normalen“ Leben zurück, nicht mehr ausblenden kann. Sie überfallen ihn ganz plötzlich und berauben ihn jeglicher Sicherheit. Sein ursprüngliches Vorhaben, eine Reportage über die Erlebnisse im Camp zu schreiben und damit den großen Coup zu landen, verschiebt er immer weiter. Die Beziehung zu seiner Freundin, mit der er zusammenlebt, gerät in eine Krise. Schon ein Stacheldrahtzaun, der den Hof zum Nachbarhaus abgrenzt oder ein sommerliches Feuerwerk werfen Albert zurück und lähmen ihn.
Einerseits lesen wir die realen Fakten, andererseits finden wir uns in Alberts Aladdin-Wahn wieder. Das verwirrt, ergibt selten eine Einheit, aber entspricht womöglich sehr diesem merkwürdigen Zustand, in dem Albert sich befindet. Isabelle Lehn gelingt es dabei sehr gut, das pathologische Fortschreiten seines Identitätsverlusts aufzuzeigen. Albert weiß bald nicht mehr, was Spiel und was Wirklichkeit ist. Wechselweise glaubt er Aladdin neben sich als seinen Begleiter, und dann wieder fühlt er sich selbst als Aladdin. Weil er bei einer seiner Internetrecherchen herausfindet, dass es auch im Camp an jeder Stelle Überwachungskameras gab, fühlt er sich verfolgt und beobachtet. Als sein Mobiltelefon gestohlen wird, glaubt er, Aladdin hätte es genommen, und versucht ihn unter seiner eigenen Nummer zu erreichen. Als er im Park ein Buch findet – hier kommt nun der im Anhang genannte Roman ins Spiel – glaubt er, es wäre Aladdins, nur weil der Protagonist Aladin heißt. Das Buch fesselt ihn, da es in diesem Buch darum geht, in (Nach-)Kriegszeiten eine neue Identität anzunehmen. Er schreibt statt eigener Bewerbungen eine für Aladdin, in der er um Asyl beim deutschen Staat ersucht. Er findet plötzlich überall den Namen Aladdin – sei es ein Ort in der Nähe von Kabul, sei es ein Modellbausatz, der diesen Schriftzug trägt.
Eines Tages ist das verdiente Geld aus dem Camp aufgebraucht und Albert geht zum Jobcenter. Dort gibt er an, er lebe mit einer Frau in einer WG. Tatsächlich wird die Beziehung zu seiner Freundin langsam, aber stetig mehr und mehr zur bloßen Wohngemeinschaft. Was sie auch versucht, er wird immer unerreichbarer. Letztlich kommt es zum Bruch, die Freundin zieht aus.
Ich traue den Bildern nicht mehr, seit ich sie selbst nachgestellt habe. […] Im Feuilleton sind die Bilder zweier Frauen zu sehen, israelische Soldatinnen, die sich gegenseitig Verletzungen schminken. Die Fotos sollen an einem Filmset entstanden sein, und der Artikel berichtet darüber, wie die Hamas mit den Bildern Propaganda betreibt.
Irgendwann werden die Identitäten ausgetauscht, Aladdin wird zu Albert, übernimmt dessen Wohnung, dessen Besitz, dessen Pass, seine Unterschrift, seine Sprache. Albert verdingt sich erneut als Statist im Camp. Doch diesmal ist es ein neues Programm, eine ganz besondere Herausforderung: Aufgabe ist es nun, auf der Flucht zu sein, über Land, übers Wasser, über Grenzen …
Isabelle Lehn hat sich ein großes, aktuelles Thema für ihre Geschichte ausgesucht. Sie beweist Mut, einen so umfassenden Stoff in einem Debütroman anzugehen. Doch das Thema in seiner Vielschichtigkeit auf einen kurzen Roman herunterzubrechen, ist ihr nicht ganz gelungen, kann vielleicht gar nicht gelingen. Lehn kann spannend und sprachlich überzeugend erzählen, nur das Konzept des Romans ist nicht zu hundert Prozent stimmig. Zu bruchstückhaft erscheint oft die Figur Alberts. Zu knapp angerissen die im Buch vorkommende Andeutung eines Flaschengeistes aus 1001 Nacht. Zu wenig ausgearbeitet ein möglicher Zusammenhang zu dem Roman Elisabeth Langgässers, dessen Protagonist Jean Marie Aladin nach dem ersten Weltkrieg in einer Heilanstalt landet und später eine neue Identität annimmt, und aus dem doch sehr viel zitiert wird.
Jedoch stellt Lehn eindrücklich dar, wie die Social-Media-Welt inzwischen tatsächliche Ereignisse in „real time“ zu verzerren weißund wie wir davon überflutet werden – wie schwierig es in der Tat ist, zu unterscheiden, was wirklich ist und was nicht.
Der ungewöhnliche, sehr treffende Titel, den Isabelle Lehn für ihren Roman gewählt hat, ist der Anfang eines Zitats des persischen Dichters Rumi. Im Ganzen heißt es:
Binde zwei Vögel zusammen; sie werden nicht fliegen können, obwohl sie nun vier Flügel haben.
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