Splitter der Wahrheit, oder Splitter um die Wahrheit auszuhalten?
Ismet Prcic, Protagonist und Autor des Romans „Scherben“ ist fast noch ein Kind als der Krieg beginnt. Zehn Jahre später ist sein Leben ein einziger Scherbenhaufen. Alles, woran er geglaubt hat, was ihm Halt gegeben hat, ist zerbrochen.
„Scherben“ ist der Roman dieser Entwicklung, ein Buch über den Krieg, über den Hass und die Liebe, über die Unmöglichkeit einen Krieg als derjenige zu überleben, der man davor gewesen ist und gleichzeitig über die Unmöglichkeit, daran zu sterben.
Vor allem macht dieser Roman beinahe spürbar, was es bedeutet, aus einem Kriegsgebiet geflüchtet zu sein. Nicht nur, dass die Erinnerung bleibt und die Zerrissenheit zwischen der alten und der neuen Heimat, auch die Angst und die tiefen Wunden in dem, was wir gerne Identität nennen, werden nachvollziehbar. Im Falle des ehemaligen Jugoslawiens ist das zugleich eine Familien-, eine Generationsgeschichte und eine Geschichte der Kriege in Jugoslawien. Sechsundzwanzig Jahre bevor Ismet sich auf den Weg nach Amerika macht, ist sein Onkel vor den Kommunisten dorthin geflohen. Bei Prcic liest sich das so: „Wir wurden alle in derselben Stadt geboren, flohen aber aus drei verschiedenen Staaten. Bego aus dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. Irfan aus der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien. Und ich aus dem neu gegründeten, unabhängigen Staat Bosnien und Herzegowina. Was einiges über den Balkan aussagt: jede Menge Regimes, die nicht lange halten und die Leute zur Flucht treiben.“
Eugen Ruge behauptete anläßlich seines aktuellen Buches „Cabo de Gata“, er habe sich die Geschichte ausgedacht, um zu erzählen wie es war. Was Ruge als Spiel und mit spielerischer Leichtigkeit betreiben konnte, wird bei Prcic und seinem Helden zum Überlebenskampf, zur einzigen Möglichkeit weiter zu leben.
Die alte Identität muss man mit der Flucht zurückgelassen werden, aber als Fluch kehrt sie immer wieder zurück.
Ismet ist zu Anfang des Romans unterwegs zu seinem Onkel Irfan, der sechsundzwanzig Jahre zuvor vor den Kommunisten nach Kalifornien geflohen ist.
Während nach und nach alles zerbricht, besteht der Roman von Anfang an aus Splittern. Tagebuchnotizen folgen auf Notizen, denen erzählerische Passagen vorangehen.
Was so entsteht, ist eine Geschichte des Krieges aus Kinderaugen, aus den Augen eines Heranwachsenden. Das ist nicht die erste derartige Schilderung, aber weil immer wieder überall auf der Welt Kriege ausbrechen, können und dürfen diese Beschreibungen nicht aufhören, die spürbar machen, was wir, abgestumpft von den Nachrichten, kaum noch wahrnehmen. Über diese persönliche und historische Geschichte hinaus, handelt der Roman vom permanenten Versucht und dem wiederholten Scheitern, ein anderer zu werden.
Eine weitere bedeutsame Scherbe ist die Kunst. Nicht nur, weil es dem Protagonisten mithilfe einer Theatergruppe gelingt, sich nach Amerika abzusetzen, sondern um überhaupt irgendwie weitermachen zu können. Prcic findet dafür die Metapher des Rahmens, von dem aus man auf die Welt blickt und andererseits das Bild, das die Kunst bereitstellt, um wenigstens einen kurzen Moment lang die Wirklichkeit, die alltägliche, bedrückende Kriegswirklichkeit auszublenden.
Je weiter der Roman fortschreitet, umso dringlicher wird die Frage, wie weit man den eigenen Erinnerungen trauen kann. Wie gut kann man die Realität von der Vorstellung trennen, die Vergangenheit von der Gegenwart?
„Kassetten konservieren die Realität. Köpfe konservieren Fiktionen.“
Bereits zu Anfang des Romans spielt ein zweiter „Held“ eine Rolle: Mustafa scheint so etwas wie das Alter Ego von Ismet Prcic zu sein. Oder wie Ismet Prcic, dem sein Psychiater empfohlen hat, seine Geschichte aufzuschreiben, notiert: „Zuerst ging es gut; ich schrieb über meine Flucht, meine Kindheit, ich versuchte, mich an die Fakten zu halten. Aber während ich schrieb, schlichen sich andere Sachen eine kleine erfundene Geschichten.“ Woraufhin Dr. Cyrus lacht und sagt: „Jeder ist der Held seiner eigenen Märchen (¡K) mach dir keine Gedanken, was wahr ist und was nicht, damit machst du dich nur verrückt. Schreib einfach nur. Schreib alles auf.“
Das so Aufgeschriebene liest sich wie ein Roman, der eine Geschichte erzählt, die sich in mehrere Erzählansätze aufspaltet, ohne das Ganze, das allem zu Grunde liegt, aus den Augen zu verlieren.
Einer der Höhepunkt dieser Persönlichkeitsaufspaltung ist die Szene, in der Ismet nach einer Party im Valley in eine Feier von Serben gerät, die ihn nicht nur für einen von ihnen, sondern darüber hinaus für einen Kriegshelden halten.
„Du siehst ihn an, das Schwein. Das Grinsen in seinen Augen. Du willst sagen, ich bin Mustafa Nalic, aber du kannst es nicht. Du willst ihm verzeihen. Im Grunde deines Herzens willst du ihn in die Arme schließen, aber du hast Angst, ihm dabei das Rückgrat zu brechen. Du willst ihm die Hand schütteln, aber du fürchtest, du könntest ihm den Arm auskugeln. Du willst ihn auf die Wange küssen und anspucken.“
Das ist keine Schizophrenie. Das ist Krieg.
Nicht lange nach dieser Szene, Ismet ist inzwischen sowohl seelisch als auch körperlich heruntergekommen, seine Freundin hat ihn verlassen, seine Mitbewohner haben ihn vor die Tür gesetzt, sind von dem Buch, von dem Versuch Geschichten zu erzählen, nur noch Scherben übrig. „Scherben vom Ich.“
Ismet Prcic hat ein verstörendes Buch geschrieben. Ein Buch, das die heile Welt in Scherben legt. Aber nicht ohne eine Hoffnung anzubieten, die Scherben wieder neu zusammensetzen zu können.
Und dabei bin ich am Ende der Besprechung angekommen, ohne etwas über die Kraft von Prcics Sprache und über die sehr gute Übersetzung durch Conny Lösch gesagt zu haben, oder darüber, dass Prcic mit 19 Jahren aus Tuzla geflohen ist und „Scherben“ sein erster Roman ist. Oder von der Mutter Ismets, die eine große Rolle im Roman spielt. Was ich hier vorgestellt habe, sind nur einige der Scherben, den Rest sollten Sie selbst lesen.
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